Mittwoch, 26. April 2006
Literatur. Leo (Lev) Tolstoi (1828-1910)
9. September: Leo (Lev) Tolstoi wird als vierter Sohn eines adligen Gutsbesitzers in Jasnaia Polana geboren.
Nach 1830: Kommt er in die Fürsorge seiner Tante Gräfin Alexandra von Osten-Saken.
Erziehung und Unterricht durch französische und deutsche Hauslehrer.



1844: Beginn des Studiums orientalischer Sprachen, später Jura in Kazan.
1846: Beginn von ‚Intimes Tagebuch’ (das er bis zu seinem Tod führt).
1847: Studienabbruch. Auszahlung seines Erbes. Erste kleinere Essays auf dem Landgut Jasnaia Polána.
1848: Moskau und Sankt-Petersburg. Tagebuchaufzeichnungen: Gesellschaftskritik und Reformbewußtsein.

1850: Versucht Laurence Sternes A Sentimental Journey zu übersetzen.
1851: Folgt dem im Kaukasus stationierten Bruder. Eintritt in die Armee. Entschluß, Schriftsteller zu werden.
1852: Autobiographischer Roman ‚Detstvo’ (Kindheit). Spätere Erweiterung um ‚Otročestvo’ (1854, Knabenalter), Junost (1857, Jünglingsjahre). Die Trilogie schildert, gegen die russische Romantik gerichtet, die Zeit seines eigenen Heranwachsens.
1855/56: Sevastopolskie rasskazy (Sevastopol): Berichte über seine zunächst begeisterte Teilnahme am Krimkrieg.
Sevastopol im Dezember, Sevastopol im Mai und Sevastopol im August erscheinen in der Zeitschrift ‚Sovremennik’ (Der Zeitgenosse). Tolstoi zeichnet nun drastisch den Kontrast zwischen den hohen patriotischen Idealen der Verteidiger der Festung mit der furchtbaren Realität des Krieges. Tolstoi wandelt sich zum Kriegsgegner.
1856: Rückkehr als Kurier nach St. Petersburg.
1856: Versuche, die Situation seiner Leibeigenen zu ändern, scheitern. Seine Liebeleien mit Bauernmädchen und einer verheirateten Bäuerin werden 1889 in der Erzählung Der Teufel verarbeitet.
1857 und 1861: Zwei Europareisen Paris, Genf, Luzern, Baden-Baden; London, Paris, Brüssel. Tolstoi trifft den Publizisten Alexander Herzen und den Anarchisten Pierre Joseph Proudhon.
1861: Gründung einer Schule für 50 Bauernkinder mit modernen Lehrmethoden. Herausgabe der pädagogische Zeitschrift Jasnaia Polána (beide Projekte bis 1862, von den Behörden untersagt).
1862: Heirat der Schriftstellerin und Gutsbesitzertochter Sophia Andreevna Bers.
Verwaltung des Landgutes.
Es entstehen ‚Vojna i mir’ (1868/69, Krieg und Frieden) und ‚Anna Karenina’ (1875-1877), Tolstois bedeutendsten Romane.
1869: „Seelische Epilepsie“ (‚Notizen eines Wahnsinnigen’, 1884).
Erfahrung des Mißverhältnisses zwischen philosophischen Ideen und seinem Leben im Wohlstand.
1879: Lektüre Arthur Schopenhauers. Befestigung der pessimistischen Grundhaltung.
1881: Austritt aus der Kirche.
1884: Versuch als Schuster ein einfaches Leben zu führen.
1885: Gründung des Verlags Posrednik (Der Vermittler) als Organ religiös-moralischer Schriften mit erheblicher Wirkung (bis 1891 20 Millionen verkaufte Exemplare).
Juli 1891: Verzichtet auf alle Ansprüche an den Werken, die vor seiner „zweiten Geburt“ 1881 geschrieben wurden.
1910: Trennung von seiner Frau. Tolstoi verläßt mit seinem Arzt und seiner jüngsten Tochter den Familiensitz nach Konstantinopel.
20. November 1910: Tolstoi stirbt im Bahnhof von Astapovo an Lungenentzündung.

Werke:
Kindheit (1852) - Knabenalter (1854) - Sewastopol (1855/56) - Der Morgen eines Gutsbesitzers (1856) - Luzern (1857) - Jünglingsjahre (1857) - Drei Tode (1859) - Eheglück (1859) - Polikuschka (1861) - Die Kosaken (1863) - Krieg und Frieden (1868) - Anna Karenina (1877) - Ivan der Narr und seine Brüder (1880) - Kritik der dogmatischen Religion (1881) - Meine Beichte (1882) - Übersetzung der vier Evangelien (1883) - Worin mein Glaube besteht (1883) - Der Leinwandmesser (1885) - Die beiden Alten (1885) - Wie viel Erde braucht der Mensch (1885) - Der Tod des Iwan Iljitsch (1886) - Die Macht der Finsternis (1886) - Volkserzählungen (1881-1886) - Das Leben (Tolstoi) (1887) - Die Kreutzersonate (1889) - Der Teufel (1889) - Das Himmelreich in euch (1893) - Grausame Vergnügungen (1895) - Herr und Knecht (1895) - Was ist Kunst? (1898) - Auferstehung (1899) - Vater Sergius (1899) - Krieg und Revolution (1904) - Für alle Tage (1904) - Das große Verbrechen (1905) - Das Ende einer Welt (1906) - Hadschi Murat (posthum 1912) - Der lebende Leichnam (postum 1913)

... link (0 Kommentare)   ... comment


Literatur. Nikolai Gogol (1809-1852)
(20.3./1.4.) Nikolai Gogol geboren (gest. 1852)

1828: Sankt Petersburg. Sein Plan, dort eine Professur zu erhalten, scheitert.
Anstellung im Staatsdienst. Bekanntschaft mit Alexander Puschkin.
Erste literarische Betätigung mit dem anonymen Szenenidyll Ganc Kju-chel’garten (1829, Hans Küchelgarten). Die Besprechungen sind verheerend.
Mit großer Begeisterung wurde Gogols Erzählband Vecera na chutore bliz Dikan’ki (1831/32; Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka) bedacht. Er schildert darin das Leben ukrainischer Bauern. Das Dämonische, typisch für das spätere Werk, wird hier schon bemerkbar.
1835: Mirgorod, eine Sammlung von Dorfgeschichten, wurde ebenfalls äußerst positiv aufgenommen (v.a. die historische Novelle Taras Bul’ba, die von den Auseinandersetzungen von Kosaken und Polen im 16. und 17. Jahrhundert handelt).
Taras Bul’ba enthält bereits wichtige Momente von Gogols Petersburger Novellen. Sie haben die Großstadt zum Thema und ziehen das Leben des russischen Bürgertums (Flaneure, Beamte, Außenseiter etc.) ins Lächerliche: Portret (Das Porträt), Nevskij Prospekt (Der Newski Prospekt), Zapiski sumasšedšego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) und Nos (Die Nase). Vor allem Die Nase besticht durch ihre Phantastik.
1836: Das Drama Revizor (Der Revisor) erscheint. Es wurde ein Publikumserfolg.
1836 bis 1848: Aufenthalt zumeist in Rom. Arbeit an seinem einzigen Roman Mertvye duši (1842; Die toten Seelen).
1842: Gogols Erzählung Šinel (Der Mantel) erscheint.
Vierziger Jahre: Schöpferische Krise.
1843: Pilgerreise nach Jerusalem. Der Einfluß eines fanatischen Priesters auf der Rückkehr nach Rußland bewog Gogol 1845, Teile von Die toten Seelen zu zerstören (ein Fragment erschien 1855).
1847: Predigtartiges Lehrstück Vybrannye mesta iz perepiski s druz jami (Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden). Es sieht das Zarentum, die Leibeigenschaft, die orthodoxe Kirche als gottgewollt und gottgegeben an.
Vor seinem Tod nahm Gogol einige seiner reaktionären Einstellungen zurück. Er starb am 4. März 1852 in Moskau.

„Von Gogol an ist die russische Literatur modern; es ist mit ihm alles auf einmal da, was seither so dichte Überlieferung in ihrer Geschichte geblieben ist: statt der Poesie der Kritizismus, statt der Naivität die religiöse Problematik und statt der Heiterkeit die Komik, Namentlich diese. Seit Gogol ist die russische Literatur komisch – komisch aus Realismus, aus Leid und Mitleid, aus tiefster Menschlichkeit, aus satirischer Verzweiflung und auch aus einfacher Lebensfrische; aber das Gogolische komische Element fehlt nirgends und in keinem Fall.“

Th. Mann (1921), in: Gesammelte Werke, Bd 10, Frankfurt a.M. 1974, S. 594

... link (0 Kommentare)   ... comment


Literatur. 1516-18, 1526-27: Sigmund von Herberstein in Moskau
Seit dem Florenzer Konzil 1439, dann seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurden die europäischen Kontakte nach Rußland zahlreicher.
Ambrogio Contarini aus Venedig hielt sich von September 1476 bis Januar 1477 in Moskau auf. Er berichtete von Märkten auf gefrorenen Flüssen, von der Vorliebe der Russen für Honigwein, vom besonderen Wohlwollen des Großfürsten Ivan III. Vasil’evic. Der Bericht der Reise Contarinis (Itinerario), wurde mehrfach gedruckt (1486/87).
Ivan III. holte italienische Architekten wie Aristotele Fioravanti, Künstler und Handwerker an seinen Hof. Mit dem Heiligen Stuhl, Venedig und Mailand unterhielt er diplomatische Beziehungen. Zwei russische Gesandte, die mit Ludovico Sforza zur Jagd gingen und dem Senat von Venedig drei Zobeltiere schenkten, sorgten für Aufsehen (1493).
Ein Mailänder Gesandter zum Großfürsten diktierte nach seiner Heimkehr einen Bericht über Rußland (1486).
Der Humanist Julius Pomponius Laetus reiste durch „Skythien“ (Südrußland) und schrieb seine Erinnerungen daran auf.
Nikolaus von Popplau ritt zweimal von Breslau nach Rußland, einmal eher aus persönlichen Gründen, das zweite Mal als Gesandter Friedrichs III., um eine weitere für Habsburg förderliche Heirat zu arrangieren (1486/87, 1489/90). In Moskau betrachtete man ihn mit Mißtrauen. Ein Gesandter des Zaren reiste daraufhin zum Kaiser, ein Diener Popplaus erneut nach Moskau, um für Friedrich III. um drei oder vier Elen und einen Guljatin, „der rohes Fleisch frißt“ (einen Lappen?), zu bitten. Gemessen an der Weite des Raumes und der Vielfalt der zu erfassendern Landschaften blieb das Wissen gering.

Erst der steirische Adlige und habsburgische Diplomat Sigmund (Sigismund) von Herberstein berichtete umfassend und systematisch über ein bis dahin fast unbekanntes Land. Sein Werk, die „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ oder „Moscovia“ erschien 1549 im Druck. Das Buch beruht auf den Erfahrungen zweier Gesandtschaftsreisen, die Herberstein 15161518 und 1526-27 nach Moskau unternahm. Er kam zwar nur ein einziges Mal aus Moskau heraus, ebenso gaben ihm die Anreise über Krakau, Lublin und Novgorod bzw. Minsk wie die Ausreise über Vjaz’ma, Smolensk, Wilna, Grodno (Hrodna) und Krakau nur knappe Einblicke. Doch während der Zeit in Moskau bemühte er sich, Angaben zu Geographie, Politik, Religion und Kultur aus den nahen wie den entfernten Regionen zu erlangen.
Große Aufmerksamkeit schenkte Herberstein den religiösen Gegebenheiten wie der Stellung der Bischöfe und Priester, den Taufritualen und Bußpraktiken, den Formen der Messe, Beichte und Hochzeit, dem mönchischen Leben und den strengen Fastenregeln.
Bei der zweiten Reise sollte er nicht nur einen Frieden zwischen Polen und Rußland vermitteln, sondern die liturgischen und dogmatischen Unterschiede erkunden. Hing doch die „Bündnisfähigkeit“ des Zaren auch daran, wie die russische Kirche zum (westlichen) Christentum stand. Herbersteins Interessen freilich galten mehr der Geographie. Die einleitenden Kapitel, ebenso ein umfangreicher Abschnitt sind der Landesbeschreibung gewidmet.
Moskau als Mittelpunkt nehmend und an den Flüssen des Landes orientiert, werden von ihm im Uhrzeigersinn die Regionen des russischen Reiches geschildert, die dort lebenden Volksgruppen durch ihre Eigenarten und Lebensformen charakterisiert, die wichtigsten Orte genannt. Auch die Beschreibung der Nachbarvölker wird berücksichtigt. Herbersteins geographischer Horizont reicht von Lappland bis zum Schwarzen Meer, von Litauen über den Ural bis nach Sibirien.

Ihm berichtete Geschichten von exotischen Völkern und Tieren, von Hundsköpfigen, Kopflosen und winterschlafenden Händlern, hielt er für Fabeln. Andere allerdings, die von der Härte des russischen Winters berichteten, leuchteten ihm ein. Selbst der Rotz, wenn man ihn ausspucke, gefriere auf dem Wege zum Boden. Ihm selbst sei einmal fast die Nase erfroren. Alltagskultur und Verhalten der Bevölkerung in Rußland wurden von Herberstein sachlich geschildert. Er verfiel nicht in die übliche Schelte auf die orthodoxen Schismatiker oder Häretiker, ebenso wenig ließ er sich auf das Stereotyp vom „wilden Russen“ oder „barbarischen Moskowiter“ ein, das die europäischen Vorstellungen weitgehend prägte. Allenfalls werden hier und da gewisse Vorbehalte sichtbar. So gab ihm das unmäßige Trinken der Russen zu denken, die Autokratie des Großfürsten bezeichnet er als Tyrannei. Doch es war ihm nicht möglich zu erschließen, „ob solch ein Volk eine solche schwere Herrschaft haben muß oder ob die grausame Herrschaft so untaugliches Volk macht“.
Er gewann den Eindruck, daß sich die Russen „der Leibeigenschaft mehr als der Freiheit freuen“. Alle verstünden sich als „verkaufte Knechte“ des Fürsten. Die Belastung der Bauern, „schwarze Männlein“ genannt, übersteige alles Maß. Das Dasein der russischen Frauen fand er beschämend. Daß sie Prügel mit Liebe vergälten, notierte er als Beispiel der kulturellen Fremdheit.
Auch in diesen Abschnitten seines Berichts verzichtete Herberstein meist auf pauschale Urteile. Gleichwohl fragte er: Gehört Rußland, gehört Moskau zu Europa oder eher zu Asien? Herberstein suchte eine Antwort nicht in den sozialen, religiösen oder politischen Verhältnissen, sondern mit Hilfe geographischer Kriterien. Der Breitengrad Moskaus ließ sich leicht bestimmen. Schwieriger war die geographische Länge zu ermitteln. Herberstein hielt sich an das ihm vertraute Schema der mittelalterlichen TO-Karten, demzufolge der Don (Tanais) Asien von Europa trennte. Er zog eine imaginäre gerade Linie von der Mündung zum Ursprung des Don und kam zu dem Ergebnis, daß Moskau in Asien und nicht in Europa liege. Für Europa indes sprach die Religion des Landes, die politischen Verhältnisse dagegen wie die Stellung der Frau legten Vergleiche mit den „orientalischen Despotien“ (Türkei, Persien) nahe. Herberstein vermochte keine eindeutige Grenzziehung zwischen Europa und Asien anzugeben.



Nach: F. Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart 2001, S. 109ff.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Literatur. 1703: V.K. Tredjakovskij geboren (gest. 1769).
Einer der ersten Texte, der explizit die Geschichte der russischen Poesie aufgreift, ist Vasilij Trediakovskijs „Über die alte, die mittlere und die neue russländische Dichtung“ von 1755). Es ist der Versuch, den gegenwärtigen Stand der russischen Dichtung als Höhepunkt einer langen Entwicklung aufzuweisen.
Für Tredjakovskij, Sohn eines verarmten Priesters in Astrachan, war die westliche Bildung ein tiefgreifendes Erlebnis. Er studierte an der Sorbonne. Für Tredjakovskij ist der französische Einfluß dominant.
1748: „Traktat von alter und neuer Orthographie“. Er enthält die Aufforderung zum Bruch mit den kirchenslavischen Traditionen, zur Einführung einer Rechtschreibung, die das lebendige Russische widerspiegelt:
Die „Aussprache der zarten Damen (sei) schon längst dazu übergegangen (...), den russischen Lauten zu folgen.“ Er prophezeite, daß „auch die Herren Gelehrten bald freiwillig ihrem Beispiel folgen würden, einfach weil die Herren Gelehrten auch nicht aus Holz geschnitzt seien.“
1752: Übersetzung von Nicolas Boileaus „L’art poetique“, einer der wichtigsten klassizistischen Poetiken.
1735: Lehre von den Gattungen. Er begründet erstmals ein festgefügtes System auf klassizistischer Grundlage.
Unterscheidung: Epische (epopöische oder heroische), lyrische u. dramatische Poesie.
Das Epos ist die höchste Literaturart. Danach folgt die Ode (mit hohen, edlen, zuweilen zarten Stoffen).
Unterscheidung: bukolische, elegische, epigrammatische, didaktische, satirische, epistolische u.v.a. sekundäre Gattungen.
Lomonosov verteilte die Trediakovijschen Gattungen auf (seine) drei Stile:
stylus sublimior sei in griechischen (d.h. heroischen) Poemen, festlichen Oden und Prosareden über erhabene Materien anzuwenden.
stylus mediocrici in Tragödien, moralischen Komödien, versifizierten Episteln, satirischen Gedichten, Eklogen und Elegien wie in der Prosa in Memorabilien und gelehrten Schriften.
stylus inferior in Farcen, Epigrammen und Liedern, prosaischen Episteln u. Schilderungen alltäglicher Dinge und Begebenheiten.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Rußland und Europa. Dostojewski. In Europa sind wir bloß Landstreicher (1877)
„Denn wie seid ihr eigentlich zur Tat übergegangen? Ihr habt doch schon längst begonnen, schon vor langer, langer Zeit, aber was habt ihr denn für die Allmenschheit, das heißt: zur Verwirklichung eurer Idee getan?
Ihr begannt mit ziellosem Umherstreichen durch Europa, mit dem heftigen Verlangen, euch in „Europäer“ zu verwandeln, wenn auch nur dem Anschein nach. Das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch taten wir ja nichts anderes als den Schein eines Europäerturns annehmen. Wir zwangen uns europäischen Geschmack auf, aßen sogar allerhand abscheulich gepfeffertes Zeug nach europäischem Beispiel und bemühten uns krampfhaft, dabei das Gesicht nicht zu verziehen: „Seht, was ich für ein Engländer bin, kann nichts mehr ohne Cayenne-Pfeffer essen!“
Ihr glaubt vielleicht, daß ich euch verspotten will? Fällt mir nicht ein. Ich verstehe nur zu gut, daß man anders überhaupt nicht hätte anfangen können, „Europäer“ zu werden. Wir mußten gerade mit der Verachtung des Eigenen beginnen, und wenn wir ganze zwei Jahrhunderte auf diesem Punkt stehen geblieben sind, uns weder vorwärts noch rückwärts bewegt haben, so wird das wohl die uns von der Natur bestimmte Frist gewesen sein. Allerdings, so ganz regungslos sind wir nicht geblieben: unsere Verachtung für das Eigene wuchs immer mehr, und besonders als wir anfingen, Europa etwas gründlicher zu verstehen. In Europa übrigens verwirrte uns die schroffe Absonderung der Nationen gegeneinander, die scharfe Zeichnung der Typen nationaler Charaktere nicht im geringsten. Unser Erstes war ja, daß wir „alles Entgegengesetzte abwarfen“ und den kosmopolitischen Typus des „Europäers“ annahmen, das heißt also, daß wir gleich am Anfang schon das Gemeinsame, was sie alle verbindet, herauszufinden verstanden – und das ist sehr bezeichnend. Mit der Zeit noch klüger geworden, hielten wir uns darauf unmittelbar an die Zivilisation und glaubten sofort blind und kritiklos, daß in ihr allein das „Gemeinsame“, das berufen ist, die Menschheit zu vereinen, enthalten sei. Sogar die Europäer wunderten sich, wenn sie uns, die Fremdlinge, sahen, über diesen unseren begeisterten Glauben, um so mehr, als sie damals schon anfingen, diesen selben Glauben bei sich zu verlieren. Begeistert empfingen wir Rousseau und Voltaire, freuten uns innigst mit dem reisenden Karamsin über die Zusammenrufung der Generalstaaten im Jahre 1789, und wenn wir auch später, nach dem ersten Viertel unseres Jahrhunderts, mit den fortgeschrittensten Europäern in Verzweiflung gerieten über die untergegangenen Träume und zerschlagenen Ideale, so verloren wir doch nicht unseren Glauben und trösteten sogar noch die Europäer. Selbst die im Vaterlande „weißesten“ Russen wurden in Europa sofort „rot“ – gleichfalls ein außerordentlich charakteristischer Zug. Darauf, schon in der Mitte dieses Jahrhunderts, erachteten sich einige von uns bereits für würdig, zum französischen Sozialismus überzutreten, und sie nahmen ihn ohne das geringste Bedenken für die endgültige Lösung der allmenschlichen Vereinigung, also für die Erreichung unserer ganzen Idee, die uns bis jetzt mit sich fortgerissen hat. Auf diese Weise hielten wir für das realisierte Ziel das, was in Wirklichkeit der größte Egoismus war, was den Gipfel der Unmenschlichkeit, der ökonomischen Sinnlosigkeit und des politischen Wirrwarrs, den Höhepunkt der Verleugnung aller menschlichen Natur, den Gipfel der Vernichtung jeder menschlichen Freiheit ausmachte. Doch das, wie gesagt, beunruhigte uns weiter nicht. Im Gegenteil: sahen wir betrübtes Bedenken oder Nichtbegreifenkönnen mancher tiefen europäischen Denker, so nannten wir sie ohne Bedenken dumm. Wir glaubten widerspruchslos, und glauben ja auch jetzt noch, daß die positive Wissenschaft durchaus fähig sei, die moralischen Grenzen zwischen den Persönlichkeiten der Einzelnen wie der Nationen zu bestimmen – als ob die Wissenschaft, selbst wenn ihr das möglich wäre, diese Geheimnisse vor der Vollendung des Versuchs, das heißt, vor der Vollendung aller Schicksale des Menschen auf Erden, entdecken könnte. Unsere Gutsbesitzer verkauften ihre leibeigenen Bauern und fuhren nach Paris, um dort sozialistische Blätter herauszugeben, und unsere Rudins starben auf den Barrikaden. Währenddessen hatten wir uns aber schon so von unserer russischen Erde gelöst, daß wir jede Vorstellung davon verloren, bis zu welchem Grade sich solch eine Lehre von der Seele des russischen Volkes entfernt. Übrigens schätzten wir den russischen Volkscharakter nicht nur nicht, sondern sprachen unserem Volk überhaupt jeden Charakter ab. Wir vergaßen, an unser Volk auch nur zu denken, und waren in unerschütterlicher Ruhe überzeugt (ohne überhaupt zu fragen), daß unser Volk sofort alles annehmen werde, worauf wir es hinweisen, richtiger, was wir ihm befehlen würden. In dieser Hinsicht hat es bei uns immer die komischsten Anekdoten über das Volk gegeben. Unsere Allmenschen blieben im Verhältnis zu ihrem Volk durchaus Gutsherren und Gutsbesitzer, und das sogar noch nach der Bauernreform.
Was aber haben wir damit erreicht? Wirklich sonderbare Ergebnisse: Vor allem werden wir von ganz Europa spöttisch angesehen. Auf die allerklügsten Russen blickt man im Westen nur mit hochmütiger Herablassung. Davor hat sie nicht einmal die Emigration gerettet, auch die politische nicht. Um keinen Preis wollen uns die Europäer als ihresgleichen anerkennen, für keine Opfer und auf keinen Fall! „Grattez le Russe“, sagen die Franzosen, „et vous verrez le Tatare“, und so ist es noch heute. Unser Barbarentum ist bei ihnen zum Sprichwort geworden. Und je mehr wir ihnen zu Gefallen unsere eigene Nationalität verachteten, um so mehr verachteten sie wiederum uns. Wir scharwenzelten vor ihnen, bekannten ihnen knechtisch unsere „europäischen“ Anschauungen und Überzeugungen; sie aber hörten uns herablassend kaum an und meinten gewöhnlich mit, nun ja, höflichem Lächeln, um uns schneller los zu werden, wir hätten das bei ihnen „nicht ganz richtig verstanden“. Es wundert sie, daß wir, die wir solche Tataren sind, auf keinerlei Art und Weise Russen werden können. Wir jedoch haben es ihnen niemals erklären können, daß wir nicht Russen, sondern Allmenschen sein wollen. Es ist wahr, in der letzten Zeit scheint ihnen doch irgend etwas aufgegangen zu sein: Sie haben begriffen, daß wir etwas wollen, etwas, das für sie furchtbar und gefährlich ist; sie sagen sich, daß es unserer viele gibt, achtzig Millionen, daß wir alle europäischen Ideen kennen und verstehen, während sie von unseren russischen Ideen überhaupt nichts wissen, und daß sie, wenn sie auch etwas von ihnen wüßten, sie doch nicht verstehen könnten; daß wir alle Sprachen sprechen, sie aber nur die ihrigen – nun, und noch vieles andere scheint ihnen mit der Zeit halbwegs aufgegangen zu sein und ihren Verdacht erweckt zu haben. Kurz, die Folge davon war, daß sie uns die Feinde und zukünftigen Zerstörer der europäischen Zivilisation nannten. So haben sie unser leidenschaftliches Ideal, Allmenschen zu werden, verstanden!
Und doch können wir uns unmöglich von Europa lossagen. Europa ist uns zum zweiten Vaterland geworden, ich selbst bin der erste, der sich leidenschaftlich zu Europa bekennt. Europa ist uns allen fast ebenso teuer wie Rußland. In ihm wohnt Japhets Stamm, und unsere Idee ist: die Vereinigung aller Nationen dieses Stammes, und sogar noch weiter, viel weiter, bis zu Sem und Ham. Was sollen wir da nun tun?
Als erstes und vor allen Dingen: Russen werden. Ist die Allmenschheit die russische Nationalidee, so muß vor allem ein jeder von uns erst Russe werden, das bedeutet aber so viel wie: „er selbst“. Dann wird sich vom ersten Schritt an alles verändern. Russe werden, heißt aufhören, sein eigenes Volk zu verachten. Sobald der Europäer sieht, daß wir unser Volk und unsere Nationalität achten, wird er sofort auch uns achten. In der Tat, je stärker und selbständiger wir uns in unserem nationalen Geiste entwickeln würden, desto stärkeren und tieferen Widerhall dürften wir im Europäer finden und ihm sofort verständlicher werden. Dann würde man uns auch nicht mehr hochmütig loswerden wollen, sondern würde uns gern zuhören. Auch äußerlich würden wir dann anders werden. Sind wir erst wir selbst geworden, dann werden wir auch endlich Menschengestalt annehmen, und nicht wie bisher nur Affengestalt haben. Wir werden wie freie Wesen, nicht wie Sklaven oder Diener sein; man wird uns dann für Menschen halten, nicht für internationale Landstreicher, nicht für die Elenden des Europäismus, Liberalismus und Sozialismus. Auch reden werden wir mit ihnen klüger als jetzt; denn in unserem Volk und in seinem Geist können wir neue Worte finden, die den Europäern bestimmt verständlicher sein werden. Und wir selbst werden dann einsehen, daß vieles von dem, was wir an unserem Volk verachtet haben, nicht Finsternis, sondern Licht ist, nicht Dummheit, sondern, im Gegenteil, Geist. Und haben wir erst das begriffen, dann werden wir Europa jenes Wort sagen, das man dort noch niemals gehört hat. Dann werden wir uns überzeugen, daß das wirkliche soziale Wort kein anderes Volk als unser Volk in sich trägt; daß in seiner Idee, in seinem Geist das lebendige Bedürfnis nach der Allvereinigung der Menschheit liegt, nach einer Vereinigung, die volle Achtung für die Persönlichkeit jeder einzelnen Nation und für ihre Erhaltung, für die Erhaltung der Freiheit des Menschen in sich schließt, und die nur den Hinweis darauf enthält, worin diese Freiheit besteht: in der Vereinigung durch Liebe, sichergestellt bereits durch die Tat, durch das lebendige Beispiel, durch das Bedürfnis nach der wahrhaften Brüderlichkeit in der Wirklichkeit – nicht aber durch die Guillotine, nicht durch Millionen gefällter Köpfe...
Hm... habe ich etwa wirklich jemanden überzeugen wollen? Das war ja nur ein Scherz. Doch – schwach ist nun einmal der Mensch: vielleicht liest es einer von den Jünglingen... einer von der jungen Generation.“

(Vgl. a. den Text über den Religionsphilosophen und Slavophilen Kirejewskij)

... link (0 Kommentare)   ... comment


Rußland und Europa. Dostojewski
Dostojewski hat sich mehrfach zur Beziehung Rußlands zu Europa geäußert. Seine Haltung ist grundsätzlich kritisch bis ablehnend. Er sieht gleichsam einen eigenen russischen Weg, der sich von der Europahörigkeit vieler Russen seiner Zeit abhebt. In mehreren seiner Werke (etwa Die Brüder Karamazov, Tagebuch eines Schriftstellers, Schuld und Sühne u.a.) kritisiert er die Werteordnungen, Lebensformen und Verhaltensweisen, d.h. die Aufklärung, den Individualismus, Rationalismus, die Säkularisierung der westlichen Gesellschaften. Er fordert Rußland auf, sich von Europa ab- und Asien zuzuwenden. Nach der Eroberung der turkmenischen Festung Geok-Tepe (1881), schreibt er, daß Rußland die Eroberung Asiens brauche, „weil Rußland nicht nur in Europa, sondern auch in Asien liegt; weil der Russe nicht nur Europäer, sondern auch Asiate ist. Und noch mehr als das: in Asien liegen vielleicht noch mehr unserer Hoffnungen als in Europa. Und ich sage noch mehr: vielleicht ist Asien in unseren künftigen Schicksalen der wichtigste Ausweg!“

F.J. Dostojewski, „In Europa sind wir nur Landstreicher“, in: Tagebuch eines Schriftstellers. Notierte Gedanken. Aus d. Russischen von E.K. Rahsin, Nachwort von A. Flaker, München und Zürich 1992, S. 309-313

... link (0 Kommentare)   ... comment


"Politische Philosophie". 1626: Leibniz' Specimen demonstrationum.
Leibniz erwähnt Moskau erstmals in dieser Schrift.
Er vertritt zunächst eine feindliche, zumindest abwehrende Haltung gegenüber Rußland. Er beschwört die Schrecken des livländischen Krieges und stellt sich die Frage, ob solche Menschen überhaupt als Christen anzusehen seien. Er warnt davor, Rußland den Weg nach Europa durch den Fall der Vormauer Europas, Polen, zu öffnen. Rußland wird von Leibniz noch als Land der Barbarei bezeichnet, eine Bewertung, die sich allerdings bald zum Positiven wenden würde.

Exkurs: Leibniz und Rußland

1697 erschien Leibniz’ Novissima Sinica. In der Vorrede weist er Moskau ausdrücklich eine historisch bedeutsame Stellung zu. Für ihn sind Europa und China Hauptträger der Kultur. Der Kontakt zwischen China und Rußland (anläßlich des Friedens von Nipschau 1689), weckte in Leibniz die Hoffnung, es könnte Rußland das Bindeglied zwischen Europa und China werden. Er zog daraus den Schluß, daß Rußland kulturell von Europa aus erschlossen werden müsse.
In Peters des Großen Europareise setzte Leibniz große Hoffnungen. Sein Verständnis für Rußland änderte sich: Er betrachtete Rußland historisch/kulturell als Tabula rasa und entwickelte ambitionierte Pläne für Rußland, in denen auch China eine wichtige Rolle spielte u. bemühte sich intensiv um eine persönliche Begegnung mit Zar Peter dem Großen. Eine in dieser Zeit entstandene Denkschrift enthält folgende Überlegungen: Weil Rußland und China die europäische Wissenschaften und Künste bei sich einführen wollen, können sie sich gegenseitig unterstützen. Um der europäischen Kultur in Rußland Zutritt zu ermöglichen, bedarf es vor allem der Einrichtung einer Akademie, deren Leitung er, Leibniz, leiten wollte, und der Einfuhr alles Nützlichen und Guten aus Europa, allerdings ohne dessen Laster mit zu übernehmen!
Leibniz’ Optimismus schwand indes in Anbetracht des Nordischen Kriegs. Er fürchtete, die Kriegshandlungen könnten die russische Entwicklung stören, desgleichen, daß ein russischer Sieg die „protestantische Sache“ schwächen könnte. Auch bedrängte ihn die Frage, ob Rußland für Europa gefährlich werden könne. Dies aber könne, so Leibniz, nur dann geschehen, wenn Rußland daran gehindert werde, sich nach westlichem Vorbild zu entwickeln.

1711 traf Leibniz Zar Peter. In einem Brief an ihn formuliert er:
„Es scheint es sey die Schickung Gottes, daß die Wissenschaft den Kreis der Erden umbwandern und nunmehr auch nach Scythien kommen solle und daß E.M. diesfalls zum Werkzeug ersehen, da sie auf der einen Seite aus Europa, auff der andern aus China das Beste nehmen und was beyde getan durch gute Anstalt verbessern können. Denn weil in dero Reich großen Theils noch alles die Studies betreffend neu und gleichsam in weiß papier [tabula rasa-Gedanke, B.K.], so können unzehlich viel Fehler vermieden werden die in Europa allmählig und unbemerkt eingerissen, und weiß man, daß ein Palast, der ganz von neuem aufgeführet wird besser herauskommt, als wenn daran viele Secula über gebauet, gebessert, und auch viel geändert worden... ich halte den Himmel für mein Vaterland und alle wohlgesinnten Menschen für dessen Mitbürger und ist mir lieber bey den Russen viel Gutes auszurichten, als bey den Teutschen oder anderen Europäern wenig...“ Leibniz konzentrierte sich intensiv auf die Einführung europäischer Kultur in Rußland.
Die krisenhafte Situation in Europa ruft bei ihm das Wunschbild eines besseren „Europa“, nämlich Rußland, hervor.
Leibniz’ politische Projekte wandten sich zunehmend Rußland zu. In den folgenden Jahren führte er mehrere Gespräche mit Peter, in denen diese politischen Aspekte eine zentrale Rolle spielten. In den Gesprächen bei der zweiten Begegnung mit dem Zaren 1712 in Karlsbad ging es um ein deutsch-russisches Bündnis. Leibniz betrieb als erster die Aufnahme Rußlands in die politische Konstellation Europas.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Literatur. 1626. Letopisnaja Kniga (= Chronikbuch)
Chronik über die Zeit der Wirren (Smutnoe vremja).
Dieser Bericht stammt vermutlich von Fürst Ivan Katyrëv-Rostovskij.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Literatur. 1564: Apostolos
In Rußland erscheint das erste (von Igor Fedorov) gedruckte Buch. Es handelt sich um den „Apostol“ („Apostolos“), der die Apostelgeschichte und die Briefe des Neuen Testaments enthält.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Literatur: 15. Jahrhundert. Um 1500 Die Byline von Vol’ch Vseslav’evc
Vermutlich stützt sich die Byline über Wolch (wolchw = russisch: heidnischer Priester oder Zauberer) mit großer Genauigkeit auf Nachrichten über den historischen Fürsten Wseslaw von Polozk (2. Hälfte 11. Jht.). Der Name des historischen Vorbilds ist auch in anderen Fällen zum Vaternamen der Bylinengestalt geworden.

Die Handlung der Wolch-Byline zeigt neben ihren Übereinstimmungen mit den Chronikberichten über Wseslaw eine entschieden ältere Erzählschicht: Wolchs Fähigkeit, sich in ein beliebiges Tier zu verwandeln, womit er in der Lage ist, die Reiche der Tiere zu beherrschen, ist eine Eigenschaft des heid-nischen Jagdgottes. Symbolisch bedeuten die drei Tiere – nämlich Maus, Frosch und Vogel –, die die Skythen an König Dareios sandten (nach Herodot IV, 123-124), dasselbe. Der Vergleich mit dem serbischen Epos über Zmaj Ognjeni Vuk belegt zudem, daß dieses wohl mit der Wolch-Byline auf einen gemeinsamen slawischen Ursprung zurückgeht: auf das Thema eines von einem Drachen gezeugten Werwolf-Fürsten, der an Leib und Geist schnell wächst und später an seinem Vater und anderen Gewaltherrschern Rache übt. Die Byline über Wolch weist überdies auch Einflüsse der Alexandreis auf.
Die Byline beginnt mit Zeugung und Geburt Wolchs: Ihn zeugt ein Drache, auf den seine Mutter versehentlich tritt – ein Motiv aus dem indoeuropäischen Epos. (Vom historischen Wseslaw wird berichtet, er sei durch Zauberei geboren.) Die Geburt ist von Naturerscheinungen begleitet, die die Furcht der Schöpfung vor dem Kind illustrieren. (Ähnliche Berichte begleiten in der Chronik Wseslaws Kriegsvorbereitungen.)
Wolch verlangt, als er anderthalb Stunden alt ist, wie ein Krieger ausgerüstet zu werden. Später erlernt er schnell das Lesen und Schreiben, ebenso die Kunst, sich in verschiedene Tiere zu verwandeln, darunter in einen Wolf. (Als Wolf konnte auch Wseslaw umgehen, heißt es im Igorlied.) Er sammelt eine Schar von Getreuen um sich, versorgt sie dank seiner Verwandlungskünste und schleust sie auch – in Ameisen verwandelt – unter dem Tor hindurch in das Indische Kaiserreich ein, dessen Herrscher einen Überfall auf Kiew plant. Die zurückverwandelte Drushina erobert das Reich, das kaum Widerstand leisten kann, da Wolch zuvor in Tiergestalt die indischen Waffen zerstört hat, nachdem er am Fenster die Pläne des Kaisers erlauschte. Wolch besteigt den indischen Thron. (Die Details des Feldzuges weisen wiederum Parallelen zu Chronikberichten über Wseslaw auf, insbesondere über seine Machtergreifung in Kiew und den Sturz des Fürsten Isjaslaw.)

Der Text:

„Durch den Garten, durch den grünen Garten / ging, lustwandelte die junge Fürstentochter, / [die junge Fürstentochter] Marfa Vseslav’evna. / Sie sprang von einem Stein auf eine grimme Schlange [Drache]; / da windet sich die grimme Schlange / um den Stiefel aus grünem Saffian, / um das seidene Strümpfchen, / schlägt mit dem Schwanz gegen die weiße Hüfte. / Da wurde die Fürstin schwanger mit Leibesfrucht, / da wurde sie schwanger mit Leibesfrucht und gebar ein Kind. / Da leuchtete am Himmel hell leuchtend der Mond, / und in Kiev wurde geboren ein mächtiger Held, / ja, der junge Vol’ch Vseslav’evic. / Es bebte die feuchte [Mutter] Erde, / es erzitterte das ruhmvolle indische Reich, / und auch das blaue Meer wogte auf, / weil der Held geboren wurde, / der junge Vol’ch Vseslav’evic; / die Fische tauchten hinab in die Tiefe des Meeres, / die Vögel flogen hoch hinauf in den Himmel, / die Auerochsen und Hirsche flohen hinter die Berge, / die Hasen und die Füchse in die Dickichte / und die Wölfe und die Bären in die Fichtengehölze, / die Zobel und die Marder auf die Inseln. / Und als Vol’ch anderthalb Stunden alt war, / spricht der Vol’ch, wie der Donner donnert: / „Heil dir, Herrin Mütterchen, / junge Marfa Vseslav’evna! / Wickle mich doch nicht in eine purpurrote Windel, / gürte mich doch nicht in seidene Gürtel, / wickle mich, Mütterchen, / in einen starken stählernen Panzer, / und auf das kühne Haupt setze mir einen goldenen Helm, / und in die rechte Hand lege mir eine Keule, / ja eine schwere Keule aus Blei, / und an Gewicht ha-be diese Keule dreihundert Pud.“ / Und als der Vol’ch sieben Jahre alt war, / gab sein Mütterchen ihn fort, daß er lesen lerne. / Und des Lesens wurde der Vol’ch kundig; / und sie ließ ihn sich setzen und mit der Feder schreiben, / und des Schreibens wurde er kundig. / Und als der Vol’ch zehn Jahre alt war, / zu der Zeit erlernte der Vol’ch die Weisheitskünste. / Und als erste Weisheitskunst lernte er, / sich zu verwandeln in einen lichten Falken; / und als zweite Weisheitskunst lernte er, Vol’ch, / sich zu verwandeln in einen grauen Wolf; / und als dritte Weisheitskunst lernte er, Vol’ch, / sich zu verwandeln in einen braunen Auerochsen mit goldenen Hörnern. / Und als der Vol’ch zwölf Jahre alt wurde, / fing der Vol’ch an, sich eine Gefolgschaft zu sammeln: / die Gefolgschaft sammelte er drei Jahre lang, / er sammelte an Gefolgschaft siebentausend. / Er selbst, der Vol’ch, ist fünfzehn Jahre alt, / und seine ganze Gefolgschaft ist je fünfzehn Jahre alt. / Der große Ruhm von ihr / kam zur Thronstadt Kiev. / Der indische Zar rüstet sich, / und er rühmt sich, brüstet sich: / Will die Stadt Kiev plündern ganz und gar / und die Kirchen Gottes in Rauch aufgehen lassen / und die ehrwürdigen Klöster zerstören. / Aber zu der Zeit war der Vol’ch des Spürsinns voll. / Mit seiner ganzen tapferen Gefolgschaft / zog er zum ruhmreichen indischen Zartum, / zog da mit ihnen in den Feldzug. / Die Gefolgschaft schläft, so schläft Vol’ch doch nicht: / Er verwandelt sich in einen grauen Wolf, / er lief, er sprang durch dunkle Wälder, / [durch dunkle Wälder] und durch dichtes Gehölz. / Und er schlägt die wilden Tiere, die ästig gehörnten [= Elche], / und auch für den Wolf, den Bär gibt es kein Entkommen, / und die Zobel, die Panther sind ihm Lieblingsbissen, / die Hasen und die Füchse verschmäht er nicht. / Vol’ch gab seiner tapferen Gefolgschaft zu essen, zu trinken, / gab den guten jungen Helden Schuhe und Kleidung – /sie trugen Zobelpelze, / und zum Wechseln Pantherpelze. / Die Gefolgschaft schläft, so schläft Vol’ch doch nicht, / er verwandelt sich in einen lichten Falken, / er flog weit hinaus aufs blaue Meer, / er schlägt Gänse, weiße Schwäne, / aber auch für die grauen, kleinen Enten gibt es kein Entkommen. / Und Vol’ch gab seiner tapferen lieben Gefolgschaft zu trinken, zu essen, / und alle Speisen waren wechselnd bei ihm, / wechselnde Speisen, zuckersüße. / Und er begann, der Vol’ch, Zauber zu treiben: / „Heil euch, ihr kühnen, guten jungen Helden! / Ihr seid nicht viel, nicht wenig – siebentausend; / aber gibt es unter euch, Brüder, einen solchen Menschen, / der sich verwandeln könnte in einen braunen Auerochsen / und laufen könnte zum indischen Zartum, / Kundschaft gewinnen könnte über das indische Zartum, / über den Zaren Saltyk Stavrul’evic, / über sein kühnes Oberhaupt aus Batus Stamm?“ / Wie wenn sich Laub und Gras hinbreitet, / so neigt sich seine ganze Gefolgschaft, / es antworten ihm die kühnen, guten jungen Helden! / „Nicht gibt es unter uns einen solchen jungen Helden, / außer dir, Vol’ch Vseslav’evic.“ / Und da verwandelte sich dieser selbe Vseslav’evic / in einen braunen Auerochsen mit goldenen Hörnern, / er rannte zum indischen Zartum. / Er sprang den ersten Sprung über eine ganze Verst, / doch den zweiten Sprung konnte man nicht mehr finden; / er verwandelt sich in einen lichten Falken, / er flog zum indischen Zartum. / Und als er im indischen Zartum ist, / ließ er sich nieder auf dem Palast aus weißem Stein, / auf dem Zarenpalast, / bei dem indischen Zaren, / an dem Fenster mit hölzernen Fensterpfosten. / Wie starke Winde über den Firnschnee ziehen –/ so spricht der Zar mit der Zarin im Gespräch; / es sprach die Zarin Azdjakovna, / die junge Elena Aleksandrovna: / „Heil dir, ruhmreicher indischer Zar! / Du geruhst, dich zu rüsten, Krieg zu führen gegen das Rus’-Land, / aber dieses ist nicht kund dir, nicht zu wissen dir: / Am Himmel hat hell leuchtend der Mond geleuchtet, / und in Kiev ist ein mächtiger Recke geboren, / dir, dem Zaren, ein Widersacher.“ / Da war Vol’ch des Spürsinns voll, / sitzend auf dem Fenster mit hölzernen Fensterpfosten; / als er nämlich diese Reden belauscht hatte, / verwandelte er sich in ein Hermelin, / lief durch die Keller, durch die unterirdischen Gewölbe, / durch die hohen Gemächer, / bei den straff gespannten Bogen biß er die Sehnen durch, / bei den gehärteten Pfeilen nahm er die Eisenspitzen heraus, / bei den Feuergewehren / zog er die Feuersteine und die Ladestöcke heraus / und grub das alles in die Erde ein. / Vol’ch verwandelt sich in einen lichten Falken, / schwang sich hoch hinauf unter den Himmel, / flog fern fort in das weite Feld, / flog zu seiner tapferen Gefolgschaft. / Die Gefolgschaft schläft, so schläft Vol’ch doch nicht, / er weckte die kühnen, guten jungen Helden auf: / „Heil euch, tapfere Gefolgschaft! / Jetzt ist nicht Zeit zu schlafen, es ist Zeit aufzustehen: / Wir wollen gehen zum indischen Zartum!“ / Und sie kamen zu einer Mauer aus weißem Stein; / stark ist die Mauer aus weißem Stein; / das Tor der Stadt ist von Eisen, / die Haken, die Riegel alle von Erz, / Wachposten stehen Tag und Nacht, / die Schwelle unter dem Tor ist aus kostbarem Walroßbein, / klug ersonnene Mauereinschnitte sind eingeschnitten, / aber nur eine Ameise kann durch den Einschnitt gehen. / Da wurden alle jungen Helden betrübt, / wurden betrübt und wurden traurig, / und sie sagen so: / „Vergeblich werden wir jetzt unseren Kopf verlieren! / Wie sollen wir denn durch diese Mauer hindurchkommen?“ / Der junge Vol’ch war des Spürsinns voll: / Er selbst verwandelte sich in eine Ameise / und alle seine guten jungen Helden in Ameisen. / Sie gingen hindurch durch die Mauer aus weißem Stein / und wurden wieder junge Helden auf der anderen Seite / in dem ruhmreichen indischen Zartum. / Alle verwandelte er zu guten jungen Helden, / mit ihrer kriegerischen Rüstung standen sie da, / und er gibt allen jungen Helden den Befehl: / „Heil euch, tapfere Gefolgschaft! / Geht umher im indischen Zartum, / haut nieder alt und jung, / laßt niemand im Zartum übrig zur Aussaat, / laßt nur übrig nach Wahl / nicht viel, nicht wenig – siebentausend / herzliebe schöne Jungfrauen.“ / Und seine Gefolgschaft geht umher im indischen Zartum / und haut nieder alt und jung / und läßt nur übrig nach Wahl / herzliebe schöne Jungfrauen. / Und er selbst, Vol’ch, ging in den Palast, / in jenen Zarenpalast, / zu jenem indischen Zaren; / die Tür am Palast war aus Eisen, / die Haken, die Krampen aus Stahl, vergoldet. / Sagt da Vol’ch Vseslav’evic: / „Und sollte ich mir das Bein brechen, aber die Tür muß raus!“ / Er stößt mit dem Fuß gegen die eiserne Tür, / zerbrach alle stählernen Krampen. / Er nimmt den Zaren an dessen weißen Händen, / ja – den ruhmreichen indischen Zaren / Saltyk Stavrul’evic, / und also spricht Vol’ch: / „Euch Zaren erschlägt man nicht, köpft man nicht!“ / Und er griff ihn und schlug ihn gegen den Fußboden aus Backsteinen, / zerschlug ihn in Krümel [von Mistdreck]. / Und da setzte sich Vol’ch selbst als Zar auf den Thron, / nahm die Zarin Azvjakovna, / ja – die junge Elena Aleksandrovna; / und jene seine tapfere Gefolgschaft / nahm jene jungen Mädchen zum Weibe. / Der junge Vol’ch aber setzte sich hier als Zar auf den Thron, / und jene wurden die Bewohner seiner Stadt. / Und er ließ hinausrollen Gold und Silber, / und Pferde und Kühe teilte er herdenweise, / und ein jeder Gefolgschaftsmann erhielt [an Geld] hunderttausend.“

Aus: Russische Lyrik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Russ.-Dt., hg.v. K. Borowsky u. L. Müller, 5., erw. Aufl. Stuttgart 1998, S. 54 ff.

... link (0 Kommentare)   ... comment


LITERATUR - 13. Jahrhundert: Digenes Akritas (Akrites)
Ein anomymes byzantinisches, später ins Russische übertragenes Heldenepos in Fünfzehnsilblern. Es stammt vermutlich aus dem 13. Jahrhundert und ist in mehreren Fassungen überliefert.

Erster Teil: Epos von Amer. Darin spiegelt sich die Ethik der Grenzkämpfe zwischen Arabern und Byzantinern am Euphrat im 9.-10. Jahrhundert. Hier werden Ähnlichkeiten mit westeuropäischen Ritterepen der Kreuzfahrerzeit bemerkbar. Die im Epos vorkommenden Namen erinnern an historische Personen. Die Urfassung des 1. Teils wird in das 10. Jahrhundert gesetzt.
Das eigentliche Digenes-Epos ist aus mündlich überlieferten Heldenliedern zusammengewachsen.

Inhalt:

Buch I-III:
Ein reicher, vornehmer arabischer Emir namens Amer unternimmt einen Kriegszug gegen das Byzanz. In Kappadokien raubt er die Tochter des lokalen Kommandeurs. Ihre drei Brüder suchen den Emir im Feldlager auf und bitten ihn, ihre Schwester wieder herauszugeben. Es folgen Zweikämpfe der Brüder mit dem Emir, die unentschieden enden. In den beglei-tenden Gesprächen machen sich die beiden Parteien miteinander bekannt. Sie berichten von ihrer Herkunft, ihren Vorfahren und deren ruhmreichen Taten. Sie sind gleichrangig. Der Emir gesteht seine Liebe zu dem Mädchen, er will Christ werden, um sie heiraten zu können. Alle ziehen ins byzantinische Reich. Der Emir läßt sich taufen und heiratet das Mädchen. Ihr Sohn bekommt den Namen Digenes (der „Doppelsprössige“, als Sohn eines Arabers und einer Byzantinerin) und den Zunamen Akritas (der „Grenzkämpfer“).
Die Mutter des Emirs macht ihm brieflich Vorwürfe und fordert ihn zur Heimkehr auf, gegebenenfalls mit seiner jungen Familie. Die Brüder der jungen Frau vertrauen ihrem arabischen Schwager und lassen ihn allein zurück reisen, um seine Angelegenheiten zu regeln. Es gelingt dem Emir, seine Mutter zum Christentum zu bekehren, seinen Clan zur Übersiedelung in das byzantinische Gebiet zu bewegen. Mit der Schilderung der Wiedersehensfreude und der Ansiedelung der Neuankömmlinge in Kappadokien schließt dieser Teil.
Zweiter Teil (Buch IV - VIII): Er setzt mit einem Lobpreis des Helden Amer ein, mit dem sich niemand vergleichen läßt, weder Achilles noch Hektor. Allein Alexander der Große ist ihm gleich (womit Hinweise auf die Tradition des Alexanderromans gegeben werden). Nun geht es um den Sohn Digenes. Bereits als Kind zeigte er ungewöhnliche Stärke und Mut bei Jagdabenteuern. Mit bloßen Händen erlegt er wilde Tiere und erschlägt einen Löwen mit dem Schwert. Auf einem Ausritt trifft er auf Apelaten (= Freibeuter im grenznahen Gebiet, Helden von Volksliedern, ähnlich den späteren Haiduken in Bulgarien) und trifft auf ihren Führer Philopappos.
Es schließt sich die Geschichte vom Brautraub an. Der junge Digenes hört von der schönen Eudokia, Tochter eines Strategen (Gebietskommandeurs), der bisher alle Bewerber abgewiesen bzw. getötet hat. Digenes reitet zum Hof des Strategen und ruft dem Mädchen seine Werbung zu. Deren Amme vermittelt ein Treffen zwischen den beiden. Am nächsten Morgen reitet Digenes in den Hof und weckt das Mädchen, indem er zur Laute singt. Nach langen Gesprächen kann er das Mädchen entführen. Der Stratege, seine Söhne und ein Heer verfolgen ihn, doch Digenes tötet alle bis auf den Strategen und seine Söhne. Der Brautraub endet mit einem prächtigen Hochzeitsfest. Danach zieht Digenes mit seiner jungen Frau an die byzantinisch-arabische Grenze und weiter in das gegnerische Gebiet. Er vollbringt große Heldentaten.
Der byzantinische Kaiser hört von ihnen und lädt ihn zu sich ein. Aber Digenes lädt seinerseits den Kaiser zur Grenze ein. Von Digenes’ Tapferkeit und Schönheit beeindruckt, macht der Kaiser ihn zum Verwalter der Grenzbezirke. Die Kaiserszene schließt mit Kampf- und Jagdspielen, in denen Digenes wieder einen Löwen erlegt.
Das V. Buch beginnt mit weiteren Abenteuern des Helden. Deren Schilderungen werden Digenes selbst in den Mund gelegt. Wieder trifft er die Apelaten und ihren Führer Philopappos. Digenes besiegt alle in Zweikämpfen. Es folgt das Abenteuer mit Maximo, einer Nachfahrin der Amazonen. Der Autor erinnert damit an den Alexanderroman. Digenes besiegt sie, aber behandelt sie rücksichtsvoll. Anschließend kommt es zu einer Vereinigung der beiden.

Lit.: Dichtung des europäischen Mittelalters. Ein Führer durch die erzählende Literatur, hg. v. R. Bräuer, München 1990, S. 200 ff.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Johann-Heinrich Jung-Stillings Unterredung mit Zar Alexander I. im Bruchsaler Schloß.
Jung-Stilling

Jung-Stilling war 1803 vom damaligen Kurfürsten, dem späteren Großherzog Karl Friedrich von Baden (1728-1811), zum Berater ernannt worden. 1808 er-schien seine „Theorie der Geister =Kunde“. Innerhalb des Pietismus und der Erweckungsbewegung nimmt Johann Heinrich Jung eine bedeutende Stellung ein. Alexanders I. Begegnung mit ihm hat mit des Zaren Neigung zum evangelischen Pietismus zu tun. Alexander hatte ein religiöses Sendungsbewußtsein, das sich mit Jung-Stillings Erwartungen eines Retters aus dem Osten traf.
Jung-Stillings Neigungen hatten sich bereits 1799 auf Rußland gerichtet. Seit 1808 kannte er die baltische Baronin Juliane von Krüdener, die 1813 in Karlsruhe war und seit 1814 eine einflußreiche russische Hofdame, und den Kultusminister des Zaren.
Im März 1814 wurde Jung-Stilling in Bruchsal erstmals von Alexander I. eingeladen.
Am 10. Juni 1814 empfing ihn der Zar nochmals in Bruchsal.
In einem über eine Stunde dauernden Gespräch ging es um die Lage des Christentums in West und Ost, darum, ob Rußland als ein endzeitlicher Zufluchtsort frommer Christen angesehen werden könne, weiterhin um die weltweite Verbreitung der Heiligen Schrift durch die Bibelgesellschaften und die christlichen Konfessionen insgesamt. Jung-Stilling beschrieb dem Zaren Wesen und Eigenart der christlichen Frömmigkeit in drei Begriffen der quietistischen Mystik: Der wahre Glaube an den Gekreuzigten erfülle sich im „abandon parfait“, der vollkommenen Hingabe an Christus, im „receuillement parfait“, der vollkommenen Konzentration der Geisteskräfte auf ihn, und der „oraison intérieure parfaite“, im vollkommenen Herzensgebet zu ihm.

Varnhagen von Ense berichtete über das Gespräch:

"So hatte der Kaiser Alexander ihn einst, nach längern religiösen Unterhaltungen, aufs äußerste bedrängt, er solle sagen, welche der christlichen Parteien er am meisten übereinstimmend glaube mit der echten reinen Christuslehre? So hart war die Frage nicht gestellt, wie die ähnliche, welche Nathan dem Saladin beantworten sollte, auch nahm Jung zu keinem Märchen die Zuflucht, sondern bekannte frei heraus, er habe keine Antwort auf diese Frage, alle christlichen Bekenntnisse und Sekten hätten ihr Gutes und keine der christlichen Formen schlösse den Weg zur Seligkeit aus ... Der Kaiser war hiermit nicht zufrieden und meinte, es müsse doch ein Mehr und Minder geben und einem Forscher wie Jung sei doch sicher nicht entgangen, wohin die Waage sich neigen wolle. Auf erneutes Dringen des Kaisers und nach einigem Besinnen, ob er ihm irgendwie nachgeben könne, hatte aber Jung doch nur wieder seinen Spruch, sein Gewissen erlaube ihm nicht, einen Vorzug einzuräumen...“
Baseler Freunden schrieb Jung-Stilling nach der Begegnung mit Alexander: „Meine Ansichten der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft und überhaupt des zukünftigen Reiches Gottes sind genau auch die Seinigen ... Gelobt sey der Herr, der den grösten Monarchen der Welt und besonders der Christenheit zu einem grosen Werkzeug ausgerüstet hat, die Vorbereitung zu seinem Reich zu machen!“
Als Ende September 1815 der Zar, der österreichische Kaiser und der preußische König sich zur Heiligen Allianz zusammenschlossen, erkannte Jung-Stilling darin eine Handlung von heilsgeschichtlicher Tragweite.
Jung-Stilling sah die Entwicklung im Lichte der nahenden Endzeit, die er gelegentlich mit dem Jahr 1816 anbrechen sah. 1815 war er mit Juliane v. Krüdener zusammengetroffen. Mit ihr besprach er, im Sinne der Herrnhuter Lehre, die Wiederkehr Christi und die Heilserwartung aus dem Osten, dem Zarenreich Alexanders. Offenbar waren dies Themen, die in Karlsruhe – freilich sehr kontrovers – diskutiert wurden: Die Erwartung der Wiederkehr des Herrn und des Anbruchs des tausendjährigen Reichs. Jung-Stilling spielte diesbezüglich am Hof eine bestimmende Rolle. Eine langjährige Hofdame und Vertraute der Markgräfin, Karoline v. Freystedt, berichtet von deren Nähe zu Jung-Stilling. Sie vermerkt, daß die Mystik dank dem Zaren Alexander zur Mode geworden sei wie eine Kleidertracht: „Frau von Krüdener und Jung-Stilling, ihre Schriften mußte man gelesen haben, um in der Gesellschaft etwas zu gelten.“
So wenig wie die Zarin, die weitaus praktischer als ihr Mann dachte, Jung-Stilling wohl als „honnête homme“ schätzte, aber in Briefen einschlägige Lektüren als „langweilig“ empfand, wollte sich freilich Karl Friedrich in Karlsruhe solchen eschatologischen Gedanken nicht öffnen.

Lit.: Jung-Stilling. Arzt – Kameralist – Schriftsteller zwischen Aufklärung und Erweckung, Ausstellungskatalog hg. v. d. Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, Karlsruhe 1990

... link (0 Kommentare)   ... comment


Das RUSSISCHE
Russisch gehört zum östlichen Zweig der slawischen Sprachen. Sie wird auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR von etwa 100 Millionen Menschen gesprochen und ist Amtssprache Rußlands. Weißrussisch und Ukrainisch zählen ebenfalls zu den ostslawischen Sprachen.



Das Russische kennt drei Dialektgruppen:

- Nordrussisch,
- Südrussisch,
- Mittelrussisch.

Mittelrussisch verbindet nordrussische und südrussische Sprachcharakteristika.
Das Hochrussische basiert auf dem in Moskau gesprochenen Mittelrussisch. Es ist eine der fünf offiziellen Sprachen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).

Als gemeinsame Grundlage für Russisch, Ukrainisch und Weißrussisch bis zum 14. Jahrhundert gilt das Altostslawische.
Erste schriftliche Zeugnisse in russischer Sprache stammen aus dem 10. Jahrhundert. Bis dahin waren die slawischen Völker zum Christentum übergetreten.



Nowgoroder Birkenbriefe

Literatursprache bis Ende des 17. Jahrhunderts war das Altkirchenslawische (Altbulgarisch/Altslawisch). Es war von Missionaren gebracht worden. Mit der Zeit wuchsen die Unterschiede zwischen der gesprochenen altrussischen und der geschriebenen Sprache.
Mit den durch Peter den Großen initiierten Säkularisierungsschüben und der Verwestlichung der Kultur im 18. Jahrhundert (= „Europäisierung Rußlands“) stellten sich auch massive Veränderungen in der Sprache ein.
Die alte Schriftsprache (das liturgische Altkirchenslawisch, aber auch die weltliche Verwaltungssprache), war kaum fähig, die vom Westen her kommenden wissenschaftlichen, technischen, kulturellen und politischen Vorstellungen zu vermitteln.
Nach Reformierung des russischen Schriftsystems durch Peter den Großen ging der Einfluß des Griechischen, Polnischen und Kirchenslawischen auf das Russische zunehmend zurück.
1708 wurde das erste Buch in der neuen Schrift gedruckt.
Seit dem 18. Jahrhundert nahm das Russische viele Lehnwörter aus dem Niederländischen, Deutschen, Französischen, Englischen und Italienischen auf. Viele Angehörige der russischen Oberschicht orientierten sich an der westlichen, vor allem der französischen Kultur. Daneben entwickelte sich eine Schriftsprache, die eine Stilmischung aus Altkirchenslawisch, der Umgangssprache und entlehnten, westlichen Sprachelementen war. Erste Versuche, die Trennung zwischen den unterschiedlichen Sprachformen zu überwinden, machte Nikolaj Michajlowitsch Karamsin Ende des 18. Jahrhunderts.
Mit dem Werk Aleksandr S. Puschkins am Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine Literatursprache, die als Norm der Schriftsprache anerkannt wurde. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichte sie den gegenwärtigen Entwicklungsstand.

... link