Mittwoch, 26. April 2006
Literatur. 1516-18, 1526-27: Sigmund von Herberstein in Moskau
Seit dem Florenzer Konzil 1439, dann seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurden die europäischen Kontakte nach Rußland zahlreicher.
Ambrogio Contarini aus Venedig hielt sich von September 1476 bis Januar 1477 in Moskau auf. Er berichtete von Märkten auf gefrorenen Flüssen, von der Vorliebe der Russen für Honigwein, vom besonderen Wohlwollen des Großfürsten Ivan III. Vasil’evic. Der Bericht der Reise Contarinis (Itinerario), wurde mehrfach gedruckt (1486/87).
Ivan III. holte italienische Architekten wie Aristotele Fioravanti, Künstler und Handwerker an seinen Hof. Mit dem Heiligen Stuhl, Venedig und Mailand unterhielt er diplomatische Beziehungen. Zwei russische Gesandte, die mit Ludovico Sforza zur Jagd gingen und dem Senat von Venedig drei Zobeltiere schenkten, sorgten für Aufsehen (1493).
Ein Mailänder Gesandter zum Großfürsten diktierte nach seiner Heimkehr einen Bericht über Rußland (1486).
Der Humanist Julius Pomponius Laetus reiste durch „Skythien“ (Südrußland) und schrieb seine Erinnerungen daran auf.
Nikolaus von Popplau ritt zweimal von Breslau nach Rußland, einmal eher aus persönlichen Gründen, das zweite Mal als Gesandter Friedrichs III., um eine weitere für Habsburg förderliche Heirat zu arrangieren (1486/87, 1489/90). In Moskau betrachtete man ihn mit Mißtrauen. Ein Gesandter des Zaren reiste daraufhin zum Kaiser, ein Diener Popplaus erneut nach Moskau, um für Friedrich III. um drei oder vier Elen und einen Guljatin, „der rohes Fleisch frißt“ (einen Lappen?), zu bitten. Gemessen an der Weite des Raumes und der Vielfalt der zu erfassendern Landschaften blieb das Wissen gering.

Erst der steirische Adlige und habsburgische Diplomat Sigmund (Sigismund) von Herberstein berichtete umfassend und systematisch über ein bis dahin fast unbekanntes Land. Sein Werk, die „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ oder „Moscovia“ erschien 1549 im Druck. Das Buch beruht auf den Erfahrungen zweier Gesandtschaftsreisen, die Herberstein 15161518 und 1526-27 nach Moskau unternahm. Er kam zwar nur ein einziges Mal aus Moskau heraus, ebenso gaben ihm die Anreise über Krakau, Lublin und Novgorod bzw. Minsk wie die Ausreise über Vjaz’ma, Smolensk, Wilna, Grodno (Hrodna) und Krakau nur knappe Einblicke. Doch während der Zeit in Moskau bemühte er sich, Angaben zu Geographie, Politik, Religion und Kultur aus den nahen wie den entfernten Regionen zu erlangen.
Große Aufmerksamkeit schenkte Herberstein den religiösen Gegebenheiten wie der Stellung der Bischöfe und Priester, den Taufritualen und Bußpraktiken, den Formen der Messe, Beichte und Hochzeit, dem mönchischen Leben und den strengen Fastenregeln.
Bei der zweiten Reise sollte er nicht nur einen Frieden zwischen Polen und Rußland vermitteln, sondern die liturgischen und dogmatischen Unterschiede erkunden. Hing doch die „Bündnisfähigkeit“ des Zaren auch daran, wie die russische Kirche zum (westlichen) Christentum stand. Herbersteins Interessen freilich galten mehr der Geographie. Die einleitenden Kapitel, ebenso ein umfangreicher Abschnitt sind der Landesbeschreibung gewidmet.
Moskau als Mittelpunkt nehmend und an den Flüssen des Landes orientiert, werden von ihm im Uhrzeigersinn die Regionen des russischen Reiches geschildert, die dort lebenden Volksgruppen durch ihre Eigenarten und Lebensformen charakterisiert, die wichtigsten Orte genannt. Auch die Beschreibung der Nachbarvölker wird berücksichtigt. Herbersteins geographischer Horizont reicht von Lappland bis zum Schwarzen Meer, von Litauen über den Ural bis nach Sibirien.

Ihm berichtete Geschichten von exotischen Völkern und Tieren, von Hundsköpfigen, Kopflosen und winterschlafenden Händlern, hielt er für Fabeln. Andere allerdings, die von der Härte des russischen Winters berichteten, leuchteten ihm ein. Selbst der Rotz, wenn man ihn ausspucke, gefriere auf dem Wege zum Boden. Ihm selbst sei einmal fast die Nase erfroren. Alltagskultur und Verhalten der Bevölkerung in Rußland wurden von Herberstein sachlich geschildert. Er verfiel nicht in die übliche Schelte auf die orthodoxen Schismatiker oder Häretiker, ebenso wenig ließ er sich auf das Stereotyp vom „wilden Russen“ oder „barbarischen Moskowiter“ ein, das die europäischen Vorstellungen weitgehend prägte. Allenfalls werden hier und da gewisse Vorbehalte sichtbar. So gab ihm das unmäßige Trinken der Russen zu denken, die Autokratie des Großfürsten bezeichnet er als Tyrannei. Doch es war ihm nicht möglich zu erschließen, „ob solch ein Volk eine solche schwere Herrschaft haben muß oder ob die grausame Herrschaft so untaugliches Volk macht“.
Er gewann den Eindruck, daß sich die Russen „der Leibeigenschaft mehr als der Freiheit freuen“. Alle verstünden sich als „verkaufte Knechte“ des Fürsten. Die Belastung der Bauern, „schwarze Männlein“ genannt, übersteige alles Maß. Das Dasein der russischen Frauen fand er beschämend. Daß sie Prügel mit Liebe vergälten, notierte er als Beispiel der kulturellen Fremdheit.
Auch in diesen Abschnitten seines Berichts verzichtete Herberstein meist auf pauschale Urteile. Gleichwohl fragte er: Gehört Rußland, gehört Moskau zu Europa oder eher zu Asien? Herberstein suchte eine Antwort nicht in den sozialen, religiösen oder politischen Verhältnissen, sondern mit Hilfe geographischer Kriterien. Der Breitengrad Moskaus ließ sich leicht bestimmen. Schwieriger war die geographische Länge zu ermitteln. Herberstein hielt sich an das ihm vertraute Schema der mittelalterlichen TO-Karten, demzufolge der Don (Tanais) Asien von Europa trennte. Er zog eine imaginäre gerade Linie von der Mündung zum Ursprung des Don und kam zu dem Ergebnis, daß Moskau in Asien und nicht in Europa liege. Für Europa indes sprach die Religion des Landes, die politischen Verhältnisse dagegen wie die Stellung der Frau legten Vergleiche mit den „orientalischen Despotien“ (Türkei, Persien) nahe. Herberstein vermochte keine eindeutige Grenzziehung zwischen Europa und Asien anzugeben.



Nach: F. Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart 2001, S. 109ff.

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