Mittwoch, 26. April 2006
Johann-Heinrich Jung-Stillings Unterredung mit Zar Alexander I. im Bruchsaler Schloß.
Jung-Stilling

Jung-Stilling war 1803 vom damaligen Kurfürsten, dem späteren Großherzog Karl Friedrich von Baden (1728-1811), zum Berater ernannt worden. 1808 er-schien seine „Theorie der Geister =Kunde“. Innerhalb des Pietismus und der Erweckungsbewegung nimmt Johann Heinrich Jung eine bedeutende Stellung ein. Alexanders I. Begegnung mit ihm hat mit des Zaren Neigung zum evangelischen Pietismus zu tun. Alexander hatte ein religiöses Sendungsbewußtsein, das sich mit Jung-Stillings Erwartungen eines Retters aus dem Osten traf.
Jung-Stillings Neigungen hatten sich bereits 1799 auf Rußland gerichtet. Seit 1808 kannte er die baltische Baronin Juliane von Krüdener, die 1813 in Karlsruhe war und seit 1814 eine einflußreiche russische Hofdame, und den Kultusminister des Zaren.
Im März 1814 wurde Jung-Stilling in Bruchsal erstmals von Alexander I. eingeladen.
Am 10. Juni 1814 empfing ihn der Zar nochmals in Bruchsal.
In einem über eine Stunde dauernden Gespräch ging es um die Lage des Christentums in West und Ost, darum, ob Rußland als ein endzeitlicher Zufluchtsort frommer Christen angesehen werden könne, weiterhin um die weltweite Verbreitung der Heiligen Schrift durch die Bibelgesellschaften und die christlichen Konfessionen insgesamt. Jung-Stilling beschrieb dem Zaren Wesen und Eigenart der christlichen Frömmigkeit in drei Begriffen der quietistischen Mystik: Der wahre Glaube an den Gekreuzigten erfülle sich im „abandon parfait“, der vollkommenen Hingabe an Christus, im „receuillement parfait“, der vollkommenen Konzentration der Geisteskräfte auf ihn, und der „oraison intérieure parfaite“, im vollkommenen Herzensgebet zu ihm.

Varnhagen von Ense berichtete über das Gespräch:

"So hatte der Kaiser Alexander ihn einst, nach längern religiösen Unterhaltungen, aufs äußerste bedrängt, er solle sagen, welche der christlichen Parteien er am meisten übereinstimmend glaube mit der echten reinen Christuslehre? So hart war die Frage nicht gestellt, wie die ähnliche, welche Nathan dem Saladin beantworten sollte, auch nahm Jung zu keinem Märchen die Zuflucht, sondern bekannte frei heraus, er habe keine Antwort auf diese Frage, alle christlichen Bekenntnisse und Sekten hätten ihr Gutes und keine der christlichen Formen schlösse den Weg zur Seligkeit aus ... Der Kaiser war hiermit nicht zufrieden und meinte, es müsse doch ein Mehr und Minder geben und einem Forscher wie Jung sei doch sicher nicht entgangen, wohin die Waage sich neigen wolle. Auf erneutes Dringen des Kaisers und nach einigem Besinnen, ob er ihm irgendwie nachgeben könne, hatte aber Jung doch nur wieder seinen Spruch, sein Gewissen erlaube ihm nicht, einen Vorzug einzuräumen...“
Baseler Freunden schrieb Jung-Stilling nach der Begegnung mit Alexander: „Meine Ansichten der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft und überhaupt des zukünftigen Reiches Gottes sind genau auch die Seinigen ... Gelobt sey der Herr, der den grösten Monarchen der Welt und besonders der Christenheit zu einem grosen Werkzeug ausgerüstet hat, die Vorbereitung zu seinem Reich zu machen!“
Als Ende September 1815 der Zar, der österreichische Kaiser und der preußische König sich zur Heiligen Allianz zusammenschlossen, erkannte Jung-Stilling darin eine Handlung von heilsgeschichtlicher Tragweite.
Jung-Stilling sah die Entwicklung im Lichte der nahenden Endzeit, die er gelegentlich mit dem Jahr 1816 anbrechen sah. 1815 war er mit Juliane v. Krüdener zusammengetroffen. Mit ihr besprach er, im Sinne der Herrnhuter Lehre, die Wiederkehr Christi und die Heilserwartung aus dem Osten, dem Zarenreich Alexanders. Offenbar waren dies Themen, die in Karlsruhe – freilich sehr kontrovers – diskutiert wurden: Die Erwartung der Wiederkehr des Herrn und des Anbruchs des tausendjährigen Reichs. Jung-Stilling spielte diesbezüglich am Hof eine bestimmende Rolle. Eine langjährige Hofdame und Vertraute der Markgräfin, Karoline v. Freystedt, berichtet von deren Nähe zu Jung-Stilling. Sie vermerkt, daß die Mystik dank dem Zaren Alexander zur Mode geworden sei wie eine Kleidertracht: „Frau von Krüdener und Jung-Stilling, ihre Schriften mußte man gelesen haben, um in der Gesellschaft etwas zu gelten.“
So wenig wie die Zarin, die weitaus praktischer als ihr Mann dachte, Jung-Stilling wohl als „honnête homme“ schätzte, aber in Briefen einschlägige Lektüren als „langweilig“ empfand, wollte sich freilich Karl Friedrich in Karlsruhe solchen eschatologischen Gedanken nicht öffnen.

Lit.: Jung-Stilling. Arzt – Kameralist – Schriftsteller zwischen Aufklärung und Erweckung, Ausstellungskatalog hg. v. d. Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, Karlsruhe 1990

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