Donnerstag, 27. April 2006
Literatur. Velimir Chlebnikov (1885-1922)
1885: Velimir Chlebnikov in der Nähe Astrachans (Tundutovo) geboren (gest. 1922)



Chlebnikov schrieb über sich selbst:

„Ich wurde am 28. Oktober 1885 im Lager mongolischer Nomaden geboren. In meinen Adern fließt armenisches Blut und das Blut der Zaporoger. Trat in eheliche Bande mit dem Tod und bin auf diese Weise verheiratet. Bin mit der Forderung hervorgetreten, die russische Sprache vom Kehrricht der Fremdwörter zu reinigen, gab den Menschen das Werkzeug, die Zukunft vorauszusehen, durch die Gesetze des Alltags des Volks habe ich ein Fenster zu den Sternen geschlagen. 1913 wurde ich zum großen Genie der Gegenwart ernannt, welchen Ruf ich bis heute genieße. War nicht beim Militärdienst“.

Chlebnikov, der Mathematik, Physik und Slawische Philologie in Kazan’ studierte, wollte als „Wissenschaftsprophet“ naturwissenschaftliche Probleme dichterisch darstellen.
Mit der Zuwendung zum Futurismus beginnt er seine komplexen Sprachexperimente.
Die zweite Phase seines Werks wird von der Mathematisierung seines Weltbildes bestimmt. In ihm verschmelzen Archaik und Utopie, die den Zauber des Ursprungs mit komplizierter Zahlenmystik verbinden.

Chlebnikov stellte intensive Spekulationen über das Wesen der Sprache und der Zahlen an und überführte sie in seine poetische Praxis. In dem frühen Gedicht Zaklinanie smechom (Beschwörung durch Lachen, 1910) entwickelte er aus dem Etymon "smech" ein breites Spektrum von Neologismen: „O, rassmejtes’, smechaci!/ O, zasmejtes’, smechaci“ („Ihr Lacherer, schlagt die Lache an!/ Ihr Lacherer, schlagt an die Lacherei!“ Üs. H.M. Enzensberger). Dies sind zwar formal richtige Worte, sie haben aber keine normalsprachliche Bedeutung. Diese würden sie erst erhalten, wenn die "Zaum"-Sprache als universales Kommunikationsmittel in einer neuen Gesellschaft durchgesetzt würde.
In der auf ägyptische Motive und Prätexte basierenden Erzählung "Ka" (1916) werden Mathematik und Mystik, Astronomie und Astrologie verknüpft. Solche Schicksalsberechnungen legte Chlebnikov in den historisch-mathematischen Schriften "Doski sud’by" (Die Tafeln des Schicksals, 1922/23) vor. Seine Sternensprache (zvezdnyj jazyk) zielte auf Verbindungen zwischen Menschenschicksal, Gestirnen und den Zahlen im Sinne einer Harmonia mundi. Das Metapoem (sverchpovest’) Zangezi (1922) verarbeitete altslavische, altorientalische und zentralasiatische Mythen. Es bekräftigte nochmals Chlebnikovs Entwurf von Autorschaft, der Attribute des Priesters, Mönchs und Zauberers umfaßte.
Im Manifest Slovo kak takovoe (Das Wort als solches, 1913) forderte er mit Aleksej Krucenych das Recht des Dichters auf sprachschöpferische Freiheit. Er entwarf eine auf Neologismen beruhende „transmentale Sprache“ (zaumnyj jazyk). Fremdwörter aus westlichen Sprachen russifiziert er, so übersetzt er z.B. Futurismus als "budetljanstvo".

Chlebnikov war auch ein engagierter, scharf beobachtender Zeitgenosse, der einen allerdings befremdet-verfremdenden Blick auf seine Gegenwart richtete: Im Gedicht Zuravl’ (Der Kranich, 1909) rotten sich Maschinen, Fabrikschlote und Eisenbahnwagen gegen den Menschen zusammen.
Gedichte der der Spätphase wie Noc’v okope (Die Nacht im Schützengraben, 1920) oder Nocnoj obysk (Nächtliche Haussuchung, 1921) nehmen ausdrücklich auf Figuren, Schauplätze und Ereignisse der Revolutions- und Bürgerkriegsepoche Bezug. Er beschwört in ihnen das uralte „Gesetz der Vergeltung“, daß Gewalt Gegengewalt auslöse.

Mit einer Einheit der Roten Armee verbrachte Chlebnikov die Zeit von April bis Juni 1921 in Persien. Truba Gul’-mully (Gulmullahs Trompete, 1921) feiert die Rückkehr des „russischen Propheten Chlebnikov“ in seine östliche Heimat.

Chlebnikov durchwanderte das Land in Lumpen, ohne Geld. Seine Manuskripte bewahrte er in einem zerschlissenen Kopfkissenbezug auf.

Mit dem Futurismus hatte er nach einem Auftritt Marinettis in Rußland 1916 gebrochen.
Seit 1920 arbeitete er als Nachtwächter in Pjatigorsk, wo er sein poetologisches Vermächtnis „Sangesi“ verfaßte. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, die herkömmlichen Gattungsgrenzen zu überwinden.

1922 starb Chlebnikov. Majakowskij hielt die Grabrede. Er bezeichnete Chlebnikow als „einen unserer dichterischen Lehrmeister und einen großartigen und ehrenhaften Ritter in unserem poetischen Kampf“.

Beschwörung durch Lachen

Ihr Lacherer, schlagt die Lache an! / Ihr Lacherer, schlagt an die Lacherei! / Die ihr vor Lachen lacht und lachhaftig lachen macht, / schlagt lacherlich eure Lache auf! / Lachen verlachender Lachmacher! Ungeschlachtes Gelachter! / Lachen lacherlicher Lachler, lach und zerlach dich! / Gelach und Gelacher, / lach aus, lach ein, Lachelei, Lachelau, / Lacherich, Lacherach. / Ihr Lacherer, schlagt die Lache an! / Ihr Lacherer, schlagt an die Lacherei! 1910 (Er)


Nach: Russische Literaturgeschichte, hg. v. K. Städtke, Stuttgart/Weimar 2002, S. 267f.; R. Lauer, Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart, München 2000, S. 502 ff.

Bild:www.presidentoftheglobe.nl/images/chlebnikov.jpg

Das Gedicht in: Russische Lyrik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Russisch-Deutsch, hg. v. K. Borowsky u. L. Müller, 5., erw. Aufl. Stuttgart 1998, S. 327

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