Mittwoch, 26. April 2006
Literatur. Daniil Iwanowitsch Juwatschow (Daniil Charms) (1905-1942)
30.12.1905, Daniil Iwanowitsch Juwatschow (Daniil Charms) geboren, gest. 2.2. 1942



Charms benutzte etwa dreißig Pseudonyme. Der Nachname bildet sich aus englisch charm. Bis 1940 lebt Charms mit seinem Vater, einem Lehrer und Schriftsteller, der auch Mitglied der sozialrevolutionären Organisation „Volkswille“ war.

1915: Eintritt in die deutsche Schule.
1918: Die Familie verläßt St. Petersburg.
1924: Abitur; Beginn des Studiums am Elektrotechnikum.
Ab 1926: Studium der Kunstgeschichte (Abteilung Film). Mitglied des Dichterverbandes.
Ende 1927: Mit dem Dichter Aleksándr Vvedenskij und anderen gründet er OBERIU, die Vereinigung der Realen Kunst.
24. Januar 1928: OBERIU hat im Haus der Presse eine erste Veranstaltung: „Drei linke Stunden“. Es wurde das Manifest verlesen, ein Theaterstück aufgeführt und eine Filmcollage präsentiert. Charms trug (um die These der OBERIU, die Kunst sei „ein Schrank“, zu belegen) auf einem schwarz lackierten Schrank stehend Gedichte vor. Dabei war er kostümiert und geschminkt. Diese „avantgardistische“ Präsentation löste einen Skandal aus. Die Mitglieder von OBERIU werden als Klassenfeinde verurteilt.

1932: Die Gruppe wird aufgelöst.

Charms und seine Freunde schreiben Bücher für Kinder und publizieren in den Zeitschriften „Igel“, „Zeisig“ und „Glühwürmchen“.
Wegen „Beteiligung an einer antisowjetischen Vereinigung“ werden Charms und Vvedenskij am 10. Dezember 1931 verhaftet. Charms wird zu 3 Jahren Straflager in Kursk verurteilt.
1933 bis 1937 arbeitet er an Prosa, Gedichten und Theaterstücken. Der größte Teil davon wurde zu seiner Lebenszeit nie veröffentlicht. Wichtig sind für Charms 30 Kurz- und Kleinsterzählungen, die er „Fälle“ nennt. Charms und seine Freunde haben weiterhin unter Verfolgung zu leiden.
„Gestern hat mir Papa gesagt, daß mich die Not verfolgen werde, solange ich Charms bleibe“, notierte er 1936 in sein Tagebuch.

23. August 1941: Charms wird wieder verhaftet.
Seine zweite Frau rettet die Manuskripte.
Am 2. Februar 1942 verhungert Charms wahrscheinlich im Gefängnis in Leningrad.
1956 wird er rehabilitiert.

Auswahl der Gedichte unter:

http://home.arcor.de/berick/illeguan/charms3.htm

Eine interessante Website: http://www.umsu.de/charms/texte/WERK.HTM

Lied
Wir schließen unsre Augen,
Menschen! Menschen!
Wir öffnen unsre Augen,
Krieger! Krieger!

Erhebt uns über die Wasser,
Engel! Engel!
Ertränkt den Feind im Wasser,
Dämonen! Dämonen!

Wir schlossen unsre Augen,
Menschen! Menschen!
Wir öffneten unsre Augen,
Krieger! Krieger!

Gebt uns die Macht übers Wasser zu fliegen,
Vögel! Vögel!
Gebt uns den Mut im Wasser zu ertrinken,
Fische! Fische!

1935

Gegenstände und Figuren, entdeckt von Daniil Ivanowitsch Charms

1) Die Bedeutung jedes Gegenstandes ist vielfältig. Schaffen wir alle Bedeutungen außer einer ab, so machen wir allein dadurch den gegebenen Gegenstand unmöglich.
Schaffen wir auch diese letzte Bedeutung ab, so schaffen wir die Existenz des Gegenstandes selbst ab.

2) Jeder Gegenstand (leblos und vom Menschen geschaffen) hat vier FUNKTIONALE Bedeutungen und eine FÜNFTE WESENTLICHE Bedeutung.
Die ersten vier sind:
- 1) die darstellbare (geometrische) Bedeutung,
- 2) die zielgerechte, zweckbestimmte (utilitare) Bedeutung,
- 3) die Bedeutung der emotionalen Wirkung auf den Menschen,
- 4) die Bedeutung der ästhetischen Wirkung auf den Menschen. Die fünfte Bedeutung definiert sich durch das Faktum der Existenz des Gegenstandes selbst. Sie steht jenseits des Verhältnisses zwischen Gegenstand und Mensch und dient nur dem Gegenstand selbst. Die fünfte Bedeutung ist - der freie Wille des Gegenstandes.

3) Der Mensch, der mit dem Gegenstand in ein Verhältnis eintritt, erforscht dessen vier funktionale Bedeutungen. Mit ihrer Hilfe ordnet sich der Gegenstand im Bewußtsein des Menschen ein, wo er auch lebt. Würde der Mensch auf die Gesamtheit der Gegenstände mit nur drei oder vier funktionalen Bedeutungen gestoßen, er würde aufhören, ein Mensch zu sein.
Der Mensch indessen, der die Gesamtheit der Gegenstände beobachtet, die aller vier funktionalen Bedeutungen entkleidet sind, hört auf, Beobachter zu sein, und wird zu einem von ihm geschaffenen Gegenstand: Sich selbst schreibt er die fünfte Bedeutung seiner Existenz zu.

4) Die fünfte wesentliche Bedeutung hat der Gegenstand nur außerhalb und jenseits des Menschen, d.h., wenn er Vater, Haus und den Boden unter den Füßen verliert. Ein solcher Gegenstand "SCHWEBT".

5) Schwebend sind nicht nur Gegenstände, sondern auch: Gesten und Handlungen.

6) Die fünfte Bedeutung des Schrankes ist Schrank.
Die fünfte Bedeutung des Laufs ist Lauf.

7) Die unendliche Vielzahl adjektivischer und komplizierter literarischer Definitionen des Schranks vereinigt sich in dem Wort "SCHRANK"

8) Teilte man den Schrank in vier, den vier funktionalen Bedeutungen des Schranks entsprechende Disziplinen auf, so erhielten wir vier Gegenstände, die in ihrer Gesamtheit einen Schrank darstellen würden. Aber das wäre kein Schrank als solcher, und einem solchen synthetischen Schrank könnte man unmöglich die fünfte Bedeutung des Einen Schranks zuerkennen. Nur in unserem Bewußtsein zusamengesetzt, hätte er die vier wesentlichen Bedeutungen und die vier funktionalen. Und im selben Augenblick der Zusammensetzung würden außerhalb unser vier Gegenstände leben, die über je eine wesentliche und je eine funktionale Bedeutung verfügten. Stieße der Beobachter auf sie - wäre er kein Mensch mehr.

9) Der Gegenstand hat im Bewußtsein des Menschen vier funktionale Bedeutungen und die Bedeutung als Wort (der Schrank). Das Wort Schrank und der Schrank als konkreter Gegenstand existieren im System der konkreten Welt auf der gleichen Ebene wie andere Gegenstände, Steine und Leuchtkörper. Das Wort Schrank existiert im System der Begriffe auf der gleichen Ebene wie die Wörter: Mensch, Unfruchtbarkeit, Dichte, Übergang usw.

10) Die fünfte wesentliche Bedeutung des Gegenstandes im konkreten System und im System der Begriffe ist unterschiedlich. Im ersten Falle ist sie der freie Wille des Gegenstandes, im zweiten - der freie Wille des Wortes (oder des Gedankens, der durch das Wort nicht ausgedrückt wird, aber wir beschränken uns hier auf die durch Wörter ausgedrückten Begriffe).

11) Jede beliebige Reihe von Gegenständen, die die Verbindung ihrer funktionalen Bedeutungen zerstört, bewahrt die Verbindung der wesentlichen Bedeutungen, fünf an der Zahl. Eine Reihe dieser Art ist keine menschliche Reihe, sondern ist ein Gedanke der gegenständlichen Welt. Betrachtet man eine solche Reihe als ganze Größe und als neu entstandenen synthetischen Gegenstand, so können wir diesem neue Bedeutungen zuerkennen, drei an der Zahl: 1) eine geometrische, 2) eine ästhetische und 3) eine wesentliche.

12) Überführt man diese Reihe in ein anderes System, so erhalten wir eine Wortreihe, die menschlich SINNLOS ist.

http://www.umsu.de/charms/texte/WERK.HTM#2

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