Mittwoch, 26. April 2006
Literatur: 15. Jahrhundert. Um 1500 Die Byline von Vol’ch Vseslav’evc
Vermutlich stützt sich die Byline über Wolch (wolchw = russisch: heidnischer Priester oder Zauberer) mit großer Genauigkeit auf Nachrichten über den historischen Fürsten Wseslaw von Polozk (2. Hälfte 11. Jht.). Der Name des historischen Vorbilds ist auch in anderen Fällen zum Vaternamen der Bylinengestalt geworden.

Die Handlung der Wolch-Byline zeigt neben ihren Übereinstimmungen mit den Chronikberichten über Wseslaw eine entschieden ältere Erzählschicht: Wolchs Fähigkeit, sich in ein beliebiges Tier zu verwandeln, womit er in der Lage ist, die Reiche der Tiere zu beherrschen, ist eine Eigenschaft des heid-nischen Jagdgottes. Symbolisch bedeuten die drei Tiere – nämlich Maus, Frosch und Vogel –, die die Skythen an König Dareios sandten (nach Herodot IV, 123-124), dasselbe. Der Vergleich mit dem serbischen Epos über Zmaj Ognjeni Vuk belegt zudem, daß dieses wohl mit der Wolch-Byline auf einen gemeinsamen slawischen Ursprung zurückgeht: auf das Thema eines von einem Drachen gezeugten Werwolf-Fürsten, der an Leib und Geist schnell wächst und später an seinem Vater und anderen Gewaltherrschern Rache übt. Die Byline über Wolch weist überdies auch Einflüsse der Alexandreis auf.
Die Byline beginnt mit Zeugung und Geburt Wolchs: Ihn zeugt ein Drache, auf den seine Mutter versehentlich tritt – ein Motiv aus dem indoeuropäischen Epos. (Vom historischen Wseslaw wird berichtet, er sei durch Zauberei geboren.) Die Geburt ist von Naturerscheinungen begleitet, die die Furcht der Schöpfung vor dem Kind illustrieren. (Ähnliche Berichte begleiten in der Chronik Wseslaws Kriegsvorbereitungen.)
Wolch verlangt, als er anderthalb Stunden alt ist, wie ein Krieger ausgerüstet zu werden. Später erlernt er schnell das Lesen und Schreiben, ebenso die Kunst, sich in verschiedene Tiere zu verwandeln, darunter in einen Wolf. (Als Wolf konnte auch Wseslaw umgehen, heißt es im Igorlied.) Er sammelt eine Schar von Getreuen um sich, versorgt sie dank seiner Verwandlungskünste und schleust sie auch – in Ameisen verwandelt – unter dem Tor hindurch in das Indische Kaiserreich ein, dessen Herrscher einen Überfall auf Kiew plant. Die zurückverwandelte Drushina erobert das Reich, das kaum Widerstand leisten kann, da Wolch zuvor in Tiergestalt die indischen Waffen zerstört hat, nachdem er am Fenster die Pläne des Kaisers erlauschte. Wolch besteigt den indischen Thron. (Die Details des Feldzuges weisen wiederum Parallelen zu Chronikberichten über Wseslaw auf, insbesondere über seine Machtergreifung in Kiew und den Sturz des Fürsten Isjaslaw.)

Der Text:

„Durch den Garten, durch den grünen Garten / ging, lustwandelte die junge Fürstentochter, / [die junge Fürstentochter] Marfa Vseslav’evna. / Sie sprang von einem Stein auf eine grimme Schlange [Drache]; / da windet sich die grimme Schlange / um den Stiefel aus grünem Saffian, / um das seidene Strümpfchen, / schlägt mit dem Schwanz gegen die weiße Hüfte. / Da wurde die Fürstin schwanger mit Leibesfrucht, / da wurde sie schwanger mit Leibesfrucht und gebar ein Kind. / Da leuchtete am Himmel hell leuchtend der Mond, / und in Kiev wurde geboren ein mächtiger Held, / ja, der junge Vol’ch Vseslav’evic. / Es bebte die feuchte [Mutter] Erde, / es erzitterte das ruhmvolle indische Reich, / und auch das blaue Meer wogte auf, / weil der Held geboren wurde, / der junge Vol’ch Vseslav’evic; / die Fische tauchten hinab in die Tiefe des Meeres, / die Vögel flogen hoch hinauf in den Himmel, / die Auerochsen und Hirsche flohen hinter die Berge, / die Hasen und die Füchse in die Dickichte / und die Wölfe und die Bären in die Fichtengehölze, / die Zobel und die Marder auf die Inseln. / Und als Vol’ch anderthalb Stunden alt war, / spricht der Vol’ch, wie der Donner donnert: / „Heil dir, Herrin Mütterchen, / junge Marfa Vseslav’evna! / Wickle mich doch nicht in eine purpurrote Windel, / gürte mich doch nicht in seidene Gürtel, / wickle mich, Mütterchen, / in einen starken stählernen Panzer, / und auf das kühne Haupt setze mir einen goldenen Helm, / und in die rechte Hand lege mir eine Keule, / ja eine schwere Keule aus Blei, / und an Gewicht ha-be diese Keule dreihundert Pud.“ / Und als der Vol’ch sieben Jahre alt war, / gab sein Mütterchen ihn fort, daß er lesen lerne. / Und des Lesens wurde der Vol’ch kundig; / und sie ließ ihn sich setzen und mit der Feder schreiben, / und des Schreibens wurde er kundig. / Und als der Vol’ch zehn Jahre alt war, / zu der Zeit erlernte der Vol’ch die Weisheitskünste. / Und als erste Weisheitskunst lernte er, / sich zu verwandeln in einen lichten Falken; / und als zweite Weisheitskunst lernte er, Vol’ch, / sich zu verwandeln in einen grauen Wolf; / und als dritte Weisheitskunst lernte er, Vol’ch, / sich zu verwandeln in einen braunen Auerochsen mit goldenen Hörnern. / Und als der Vol’ch zwölf Jahre alt wurde, / fing der Vol’ch an, sich eine Gefolgschaft zu sammeln: / die Gefolgschaft sammelte er drei Jahre lang, / er sammelte an Gefolgschaft siebentausend. / Er selbst, der Vol’ch, ist fünfzehn Jahre alt, / und seine ganze Gefolgschaft ist je fünfzehn Jahre alt. / Der große Ruhm von ihr / kam zur Thronstadt Kiev. / Der indische Zar rüstet sich, / und er rühmt sich, brüstet sich: / Will die Stadt Kiev plündern ganz und gar / und die Kirchen Gottes in Rauch aufgehen lassen / und die ehrwürdigen Klöster zerstören. / Aber zu der Zeit war der Vol’ch des Spürsinns voll. / Mit seiner ganzen tapferen Gefolgschaft / zog er zum ruhmreichen indischen Zartum, / zog da mit ihnen in den Feldzug. / Die Gefolgschaft schläft, so schläft Vol’ch doch nicht: / Er verwandelt sich in einen grauen Wolf, / er lief, er sprang durch dunkle Wälder, / [durch dunkle Wälder] und durch dichtes Gehölz. / Und er schlägt die wilden Tiere, die ästig gehörnten [= Elche], / und auch für den Wolf, den Bär gibt es kein Entkommen, / und die Zobel, die Panther sind ihm Lieblingsbissen, / die Hasen und die Füchse verschmäht er nicht. / Vol’ch gab seiner tapferen Gefolgschaft zu essen, zu trinken, / gab den guten jungen Helden Schuhe und Kleidung – /sie trugen Zobelpelze, / und zum Wechseln Pantherpelze. / Die Gefolgschaft schläft, so schläft Vol’ch doch nicht, / er verwandelt sich in einen lichten Falken, / er flog weit hinaus aufs blaue Meer, / er schlägt Gänse, weiße Schwäne, / aber auch für die grauen, kleinen Enten gibt es kein Entkommen. / Und Vol’ch gab seiner tapferen lieben Gefolgschaft zu trinken, zu essen, / und alle Speisen waren wechselnd bei ihm, / wechselnde Speisen, zuckersüße. / Und er begann, der Vol’ch, Zauber zu treiben: / „Heil euch, ihr kühnen, guten jungen Helden! / Ihr seid nicht viel, nicht wenig – siebentausend; / aber gibt es unter euch, Brüder, einen solchen Menschen, / der sich verwandeln könnte in einen braunen Auerochsen / und laufen könnte zum indischen Zartum, / Kundschaft gewinnen könnte über das indische Zartum, / über den Zaren Saltyk Stavrul’evic, / über sein kühnes Oberhaupt aus Batus Stamm?“ / Wie wenn sich Laub und Gras hinbreitet, / so neigt sich seine ganze Gefolgschaft, / es antworten ihm die kühnen, guten jungen Helden! / „Nicht gibt es unter uns einen solchen jungen Helden, / außer dir, Vol’ch Vseslav’evic.“ / Und da verwandelte sich dieser selbe Vseslav’evic / in einen braunen Auerochsen mit goldenen Hörnern, / er rannte zum indischen Zartum. / Er sprang den ersten Sprung über eine ganze Verst, / doch den zweiten Sprung konnte man nicht mehr finden; / er verwandelt sich in einen lichten Falken, / er flog zum indischen Zartum. / Und als er im indischen Zartum ist, / ließ er sich nieder auf dem Palast aus weißem Stein, / auf dem Zarenpalast, / bei dem indischen Zaren, / an dem Fenster mit hölzernen Fensterpfosten. / Wie starke Winde über den Firnschnee ziehen –/ so spricht der Zar mit der Zarin im Gespräch; / es sprach die Zarin Azdjakovna, / die junge Elena Aleksandrovna: / „Heil dir, ruhmreicher indischer Zar! / Du geruhst, dich zu rüsten, Krieg zu führen gegen das Rus’-Land, / aber dieses ist nicht kund dir, nicht zu wissen dir: / Am Himmel hat hell leuchtend der Mond geleuchtet, / und in Kiev ist ein mächtiger Recke geboren, / dir, dem Zaren, ein Widersacher.“ / Da war Vol’ch des Spürsinns voll, / sitzend auf dem Fenster mit hölzernen Fensterpfosten; / als er nämlich diese Reden belauscht hatte, / verwandelte er sich in ein Hermelin, / lief durch die Keller, durch die unterirdischen Gewölbe, / durch die hohen Gemächer, / bei den straff gespannten Bogen biß er die Sehnen durch, / bei den gehärteten Pfeilen nahm er die Eisenspitzen heraus, / bei den Feuergewehren / zog er die Feuersteine und die Ladestöcke heraus / und grub das alles in die Erde ein. / Vol’ch verwandelt sich in einen lichten Falken, / schwang sich hoch hinauf unter den Himmel, / flog fern fort in das weite Feld, / flog zu seiner tapferen Gefolgschaft. / Die Gefolgschaft schläft, so schläft Vol’ch doch nicht, / er weckte die kühnen, guten jungen Helden auf: / „Heil euch, tapfere Gefolgschaft! / Jetzt ist nicht Zeit zu schlafen, es ist Zeit aufzustehen: / Wir wollen gehen zum indischen Zartum!“ / Und sie kamen zu einer Mauer aus weißem Stein; / stark ist die Mauer aus weißem Stein; / das Tor der Stadt ist von Eisen, / die Haken, die Riegel alle von Erz, / Wachposten stehen Tag und Nacht, / die Schwelle unter dem Tor ist aus kostbarem Walroßbein, / klug ersonnene Mauereinschnitte sind eingeschnitten, / aber nur eine Ameise kann durch den Einschnitt gehen. / Da wurden alle jungen Helden betrübt, / wurden betrübt und wurden traurig, / und sie sagen so: / „Vergeblich werden wir jetzt unseren Kopf verlieren! / Wie sollen wir denn durch diese Mauer hindurchkommen?“ / Der junge Vol’ch war des Spürsinns voll: / Er selbst verwandelte sich in eine Ameise / und alle seine guten jungen Helden in Ameisen. / Sie gingen hindurch durch die Mauer aus weißem Stein / und wurden wieder junge Helden auf der anderen Seite / in dem ruhmreichen indischen Zartum. / Alle verwandelte er zu guten jungen Helden, / mit ihrer kriegerischen Rüstung standen sie da, / und er gibt allen jungen Helden den Befehl: / „Heil euch, tapfere Gefolgschaft! / Geht umher im indischen Zartum, / haut nieder alt und jung, / laßt niemand im Zartum übrig zur Aussaat, / laßt nur übrig nach Wahl / nicht viel, nicht wenig – siebentausend / herzliebe schöne Jungfrauen.“ / Und seine Gefolgschaft geht umher im indischen Zartum / und haut nieder alt und jung / und läßt nur übrig nach Wahl / herzliebe schöne Jungfrauen. / Und er selbst, Vol’ch, ging in den Palast, / in jenen Zarenpalast, / zu jenem indischen Zaren; / die Tür am Palast war aus Eisen, / die Haken, die Krampen aus Stahl, vergoldet. / Sagt da Vol’ch Vseslav’evic: / „Und sollte ich mir das Bein brechen, aber die Tür muß raus!“ / Er stößt mit dem Fuß gegen die eiserne Tür, / zerbrach alle stählernen Krampen. / Er nimmt den Zaren an dessen weißen Händen, / ja – den ruhmreichen indischen Zaren / Saltyk Stavrul’evic, / und also spricht Vol’ch: / „Euch Zaren erschlägt man nicht, köpft man nicht!“ / Und er griff ihn und schlug ihn gegen den Fußboden aus Backsteinen, / zerschlug ihn in Krümel [von Mistdreck]. / Und da setzte sich Vol’ch selbst als Zar auf den Thron, / nahm die Zarin Azvjakovna, / ja – die junge Elena Aleksandrovna; / und jene seine tapfere Gefolgschaft / nahm jene jungen Mädchen zum Weibe. / Der junge Vol’ch aber setzte sich hier als Zar auf den Thron, / und jene wurden die Bewohner seiner Stadt. / Und er ließ hinausrollen Gold und Silber, / und Pferde und Kühe teilte er herdenweise, / und ein jeder Gefolgschaftsmann erhielt [an Geld] hunderttausend.“

Aus: Russische Lyrik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Russ.-Dt., hg.v. K. Borowsky u. L. Müller, 5., erw. Aufl. Stuttgart 1998, S. 54 ff.

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