Donnerstag, 11. Mai 2006
Lektüreempfehlung
Einen thematisch vielfältigen Einblick in die russische Literatur der Gegenwart vermittelt die von Viktor Jerofejew hrg. Anthologie:

Russische Erzähler am Ende des 20. Jahrhunderts, Berlin 1995

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Montag, 8. Mai 2006
Literatur: Das Märchen von sadko
Sadko ist eine Figur der volkstümlichen Heldendichtung.

Das Märchen von Sadko

Im fernen Rußland, in der reichen Stadt Nowgorod, lebte einst ein Jüngling mit Namen Sadko. Er war nicht reich, brachte aber allen, wohin er kam, Glück und Freude. Sadko war Guslispieler, und die Gusli, seine Kniegeige, war sein einziger Besitz. Die Lieder, die er sang und spielte, rührten zum Weinen und lockten zum Lachen, stärkten die Seele und labten das Herz. Überall, auf jedem Fest in Nowgorod,
mußte Sadko spielen. Wo Sadko nicht war, fehlten die Lieder, und wo sie fehlten, trauerte das Herz.
Und wenn es trauerte, wo waren dann die Gäste?
So lebte Sadko frei wie ein Vogel.
So ging es Wochen, Monate, Jahre, und Sadko litt keine Not.
Aber eines Tages kam auch zu Sadko die Sorge. Niemand wollte ihn mehr hören, niemand lud ihn mehr ein. Ganz Nowgorod hatte ihn plötzlich vergessen.
Sadko litt Hunger und Not. Mehr aber noch verdroß ihn, daß seine Gusli verstummt war und niemand seine Lieder mehr hörte, die ihm immer noch aus der Seele quollen. Und so ging Sadko eines Morgens aus der Stadt, er lenkte seine Schritte bis zu den blauen Wassern des Ilmensees. Dort setzte er sich auf einen weißen Stein am Ufer und nahm seine Gusli, die weiße. Und er spielte dem Wasser und spielte den Wellen, die von Ufer zu Ufer wogten und leise sich betteten auf dem weißen Sand rund um den See.
Sadko spielte am Morgen, am Mittag und am Abend, den ganzen Tag ließ er die Lieder erklingen, die aus seinem Herzen kamen. Zum Tanz spielte er auf und spielte auch traurige Lieder, sie strömten aus seiner Gusli und stillten den Schmerz in seinem Herzen.
Als dann am Abend die Sonne schlafen ging in den klaren Wassern des Ilmensees, brach eine Welle aus der Tiefe des Sees hervor, schäumend wie eines Pferdes Mähne. Sie umspülte Sadkos Füße und
bedeckte seine Fersen mit Schaum. Sadko erschrak, fürchtete ein jähes Gewitter und rannte mit seiner Gusli zurück nach Nowgorod.
Am anderen Morgen wartete Sadko wieder vergebens, daß jemand ihn rief, seine Lieder zu spielen.
Nur der Wind kam und wehte den Staub auf, fegte den Weg, den schon lange niemand mehr gegangen, den Weg zu Sadkos Haus.
Traurig ging Sadko aus der Stadt, lenkte seine Schritte bis zu den blauen Wassern des Ilmensees. Dort setzte er sich auf den weißen Stein am Ufer und nahm seine Gusli. Und er spielte erneut dem Wasser und auch den Wellen, die von Ufer zu Ufer wogten und leise sich betteten auf dem weißen Sand rund um den See. Als dann die Sonne am Abend ihr Haupt verhüllte, brach eine Welle aus der Tiefe des Sees
hervor wie eine riesige Hand, die sich zum Himmel erhebt. Sie wälzte sich über das Ufer, umspülte zu halber Höhe den Stein und bedeckte Sadkos Knie mit Schaum. Sadko erschrak bis ins Mark, sprang auf und rannte entsetzt heim nach Nowgorod.
Und es kam der dritte Tag. Wieder wartete Sadko, ob nicht jemand käme und ihn riefe zum Spiel. Aber niemand kam, nur der Wind spielte mit dem Kehrricht vorm Haus.
Traurig ging Sadko aus der Stadt, bis hin zum Ilmensee, der sich bis zum Horizont erstreckte mit seiner klarblauen Flut. Wieder setzte sich Sadko ans Ufer auf den weißen Stein und nahm seine Gusli. Wieder spielte er dem Wasser und den Wellen, die von Ufer zu Ufer wogten und leise sich betteten auf dem weißen Sand rund um den See.
Sadko spielte am Morgen, am Mittag und am Abend, den ganzen Tag spielte er seine Lieder, die ihm aus dem Herzen kamen und mit denen er einst die Menschen erfreut hatte. Traurig waren die Weisen und fröhlich, und sie stillten den Schmerz, den Sadko im Herzen trug.
Am Abend, als die Sonne müde zur Ruhe ging, brach aus der Tiefe des Sees eine Welle hervor gleich einem gläsernen Berg oder wie schweres Gewittergewölk und brandete über den weißen Stein. Bis zum Gürtel reichte sie Sadko und bedeckte seine Schultern mit Schaum. Entsetzen packte ihn, und er glaubte, sein Ende wäre gekommen. Er wollte schreien und sein Heil in der Flucht suchen. Doch die Füße versagten den Dienst, und er blieb reglos sitzen auf dem weißen Stein.
Da teilte sich das Wasser des Sees, als hätte ein Schwert es zerschlagen, und in der Kluft stand der schreckliche Zar Ilmen, der Herr des Sees, selbst und sprach zu Sadko: „Gruß dir, Sadko, du trefflicher Gus-lispieler, und Dank, daß du meinen Gästen aufspieltest, die zum Fest bei mir weilten. Drei Tage währte unser Fest im See, und drei Tage hast du es uns verschönt.
Eingeladen hatte ich dich nicht, doch scheint mir, daß du reichen Lohn verdient hast. Kehr wieder heim, Sadko. Morgen werden meine Boten kommen und dich zu einem Gastmahl laden, wie die Stadt noch keines gesehen hat. Alle Reichen der Stadt werden kommen und sich brüsten. Du, Sadko, sage nichts, tu so, als wärest du stumm. Sie werden dich fragen: ‚Nun, und du, Sadko, hast nichts womit du dich rühmen könntest?’ Dann antworte ihnen: ‚Ich kenne das Geheimnis des Ilmensees. In seiner Tiefe wohnt ein kostbares Fischlein, mit Schuppen aus reinem Gold. Wenn ich nur Lust habe, geh’ ich zum See und fange das Fischlein, und wenn ich will, fange ich auch zwei oder drei und nehme sie mit nach Hause.’ Niemand wird dir glauben. Jeder wird mit dir wetten wollen. Du, geh darauf ein und wette mit ihnen um all ihren Reichtum. Dann nimm das feinste Seidennetz und komm zum Ilmensee. Alle sollen dich begleiten. Rudere mit einem Fischerboot aufs Wasser und wirf das Netz in die Fluten. Dreimal ziehst du es aus dem Wasser. Bei jedem Male will ich dir ein Fischlein aus reinem Gold geben. So wirst du mit einem Schlag der reichste Mann in ganz Rußland. So will ich dich für dein Spielen belohnen.“
Der Seezar hatte zu Ende gesprochen, das Wasser schloß sich wieder über ihm, und der See lag still und ruhig da wie eh und je.
Wie träumend wandelte Sadko nach Hause, wo er den neuen Tag erwartete.
Am Morgen geschah alles genau so, wie es der Seezar vorausgesagt hatte: Sadko wurde zum Fest geladen. Und schließlich fragten sie ihn, und Sadko wettete mit ihnen. Sie zogen alle zum Ilmensee, und Sadko fischte drei goldene Fischlein aus dem See, wie es der Seezar gesagt hatte.
Sadko hatte die Wette gewonnen und war nun reich wie kein anderer. Er ließ sich einen Palast aus weißem Stein bauen, der von fern leuchtete wie die Sonne. Und als der Palast fertig war, führte Sadko eine Braut heim, schön wie die Morgenröte, und feierte Hochzeit.

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Freitag, 5. Mai 2006
Literatur. Russische Gegenwartsliteratur (Beispiele).
Von
Maria Petrochenkova


Zwei Typen der russischen Literatur lassen sich gegenwärtig deutlich unterscheiden:

1) „Massenliteratur“ – v.a. Kriminalromane in Millionen-Auflagen.
2) „Alternative“ AutorInnen.

Kriminalromane

Alexandra Marinina
Sie wird die russische Agatha Christie genannt.
In den 90er Jahren: Gründerin der kommerziellen Literatur in Russland. Der Erfolg ihrer Romane war ein kulturelle Ereignis.
Die reine Unterhaltungsfunktion der 'schönen' Literatur galt für russische Autoren vor Marinina ein Skandal.
Marininas Kriminalromane sind in mehrere Sprachen (auch ins Deutsche) übersetzt.

Sie wurde 1957 in Moskau geboren.
Nach dem Jura-Studium an der Moskauer Lomonossow-Universität arbeitete sie 1979-1998 als wiss. Mitarbeiterin an verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen der Polizei.
Ihr Forschungsschwerpunkt war die 'kriminelle' Persönlichkeit mit psychischen Verhaltensstörungen.

•Seit 1992 schreibt sie Krimis. Alle Romane haben eine gemeinsame Heldin: Nastja Kamenskaja.
Kamenskaja ist gut gebildet (sie beherrscht fünf Fremdsprachen) und ist verheiratet. Sie hat einen unabhängigen, selbstbewussten Charakter. Ihre Kollegen (es sind meist Männer) respektieren sie als Profi. Bei ihrem Mann und Vorgesetzten führt sie sich eher wie eine gehorsame vernünftige Tochter auf.
Kamenskaja präsentiert ein neues Weiblichkeitbild, das in Russland sehr positiv aufgenommen wird.
• Die Krimis wurden 2003 als Serie verfilmt.

„Über die Jahre hatte ich viel mit dem Verbrechen zu tun und ich verstand, dass am Verbrechen an sich weder etwas interessantes ist noch jemals sein kann. Deswegen sind meine Bücher nicht über Verbrechen. Sie sind über Menschen, ihre Leben, ihre Seelen, ihre Gedanken, über alles, was hinter ihren Handlungen steckt - auch wenn ihre Handlungen Verbrechen sind.“

Werkbeispiel: Der gestohlene Traum.

Für A. Kamenskajas Kollegen scheint der Fall klar: Die schöne junge Sekretärin und Gelegenheitsprostituierte Vika Jeremina, die in einem Waldstück in der Nähe von Moskau ermordet aufgefunden wurde, ist Opfer ihres ungewöhnlichen Lebenswandels und einer schweren psychischen Erkrankung. Für N. Kamenskaja beginnt der schwierigste Fall ihrer Laufbahn als Kripobeamtin. Es gibt eine undichte Stelle in der Obersten Kriminalbehörde Moskaus, mindestens einer ihrer Kollegen arbeitet für die örtliche Mafia und untergräbt ihre Ermittlungen. Aber wer?
Bei einer Reise nach Rom macht sie eine Entdeckung, die die Mordsache Jeremina in ein völlig neues Licht rückt, und gerät damit selbst ins Visier der Mafia...

Polina Daschkowa
1960 in Moskau geboren. Sie hat kurz an der Fakultät für Journalistik der Mosakuer Lomonossow-Universität studiert, danach wechselte sie zum renommierten Gorkij-Literatur-Institut. Daschkowa arbeitete für Verlags- und Zeitschriftenredaktionen.
Anfang der 90er Jahre war sie als Simultandolmetscherin für Englisch beim russischen Parlament beschäftigt.

Ihre Karriere als Schriftstellerin begann mit Gedichten, die Ende der 70er Jahre in verschiedenen Literaturzeitschriften erschienen.

1996: erscheint ihr erster Kriminalroman, der in kürzester Zeit die Spitze der russischen Buchcharts erreichte.

Daschkowa schickt ihre Figuren in den chaotischen Alltag des neuen Russland, in das Gewimmel der „neuen“ Russen, ins Showbusiness, zu Prostituierten, die Mafia und zu den gewöhnlichen Menschen in Moskau und der Provinz. Ihre Kriminalromane sind eine gekonnte Mischung aus Spannung und sozialer Studie.

Auf Deutsch erschienen:
"Die leichten Schritte des Wahnsinns" (2001) und "Club Kalaschnikow" (2002).

„Das Schreiben ist die angeborene Pathologie der Sinnesorgane oder des Stoffwechsels, bei der alles, was man sieht, hört oder sogar riecht, unbedingt in literarischer Form ausgedrückt werden muss.“

Werkbeispiel: Für Nikita.

Es war die ganz große Liebe, sie galten als unzertrennlich: Nika und Nikita, die Medizinstudentin und der junge Dichter. Aber Nika hat dann Grigori Russow geheiratet, den einflußreichen Politiker, der gerade in Sibirien zum Gouverneur gewählt wurde. Auch Nikita ist verheiratet, die weiblichen Hauptgestalten seiner Krimis aber tragen Nikas Züge. In letzter Zeit schreibt Nikita nicht an einem neuen Roman, sondern an Russows Biographie - eine Auftragsarbeit, die ihn in tödliche Gefahr bringt.
Als Nikitas Tod offiziell bekannt wird, nimmt Nika die nächste Maschine nach Moskau: Sie will dem Tod des Mannes auf den Grund gehen, der ihre einzige große Liebe war. Doch Nika tritt ihre Reise heimlich an, sie wird verfolgt von den Bodyguards ihres Mannes und von einem geheimnisvollen Fremden.

Agrippina Donzowa
1952 in Moskau geboren. Nach dem Journalistik-Studium an der Lomonossow-Universität arbeitete sie als Dolmetscherin für Französisch im sowjetischen Konsulat in Syrien, in Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen.

1998 erkrankte sie an Krebs. Ihre ersten fünf Romane hat sie im Krankenhaus geschrieben.
Sie hat ein paar Dutzend Romane verfaßt. Ihr Genre ist der ironische Krimi. In Russland gehört sie zu den meistgelesenen Krimiautoren und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Russischen Krimipreis. Einige Bücher wurden zu Krimiserien verfilmt.

Werkbeispiel:
Als Dascha Wassiljewa erfährt, dass ihr Exmann Maxim Poljanskij seine 7. Ehefrau umgebracht haben soll, kann sie es nicht glauben. Leider sprechen alle Fakten gegen den erfolgreichen Eierhändler: er hat ein falsches Alibi und wurde am Tatort blutverschmiert gesehen. Doch Dascha kennt den unverbesserlichen Schürzenjäger sehr gut und ist überzeugt, dass Poljanksij nie einer schlafenden Frau ins Gesicht schießen könnte. Um seine Unschuld zu beweisen, nimmt sie selbst die Ermittlungen auf. Weitere Morde machen den Fall verwirrend. Die mutige Hobby-Detektivin geht mit unkonventionellen Mitteln vor, schafft es vieles aufzuklären und gerät dabei selbst in Gefahr.

Boris Akunin (= Georgij Thschhartischwili) wurde 1956 in Moskau geboren.

„Ich spiele leidenschaftlich gern. Früher habe ich Karten gespielt, dann strategische Computerspiele. Schließlich stellte sich heraus, daß Krimis schreiben noch viel spannender ist als Computerspiele. Meine ersten drei Krimis habe ich zur Entspannung geschrieben.“

Akunin stammt aus einer georgischen Familie und studierte in Moskau an der Fakultät für orientalische Sprachen der Lomonosswow-Universität. Er arbeitete als Literaturwissenschaftler, Kritiker, Essayist und Übersetzer aus dem Japanischen. Der Name B. Akunin ist ein Pseudonym, das auf den berühmten russischen Anarchisten Bakunin anspielt.

1998: erste Kriminalromane, die ihm schnell eine gewaltige Popularität einbrachten. Seine Kriminalabenteuer sind mit ihrer historischen Situierung zugleich Einführungen in die Geschichte des vorrevolutionären Russlands. Sie führen in stilvoller Sprache (Akunins Sprachspielereien schöpfen hier deutlich aus Dostojewskis sprachlichem Reservoir) den Leser in das Russland des 19. Jahrhunderts und brachten den Autor an die Spitze der Beliebtheitsskala der russischen Unterhaltungsliteratur.

Seine Helden läßt Akunin auf Doppelgänger bekannter klassischer Romanfiguren stoßen. Sie rufen ein literarisches déjà-vu-Erlebnis nach dem anderen hervor. Als geschickt konstruierte Sprachspiele sind Akunins Kriminalromane eine Hommage an die große russische Literatur des 19. Jahrhunderts. Als Autor für geistreiche und auch literarisch anspruchsvolle Kriminalromane steht Akunin als Vertreter der Trivialliteratur, eines verunglimpften Genres, das jedoch in jüngster Zeit auf immer mehr Beachtung trifft.

Auf Deutsch erschienen bisher die Romane "Fandorin" (2001), "Türkisches Gambit" (2001) und "Mord auf der Leviathan" (2002). Fast alle seine Krimis wurden in letzten drei Jahren verfilmt.

Werkbeispiel: Die Bibliothek des Zaren:
Als der englische Historiker Nikolas Fandorin, Nachkomme des berühmten Detektivs Erast Fandorin, von seinem Vater alte Dokumente erbt, beginnt er, sich für die Geschichte seiner Familie zu interessieren. Besonders ein Erbstück hat es ihm angetan: eine geheimnisvolle Handschrift seines Vorfahren Kornelius von Dorn, der im 17. Jahrhundert als Söldner nach Russland gekommen war. Nikolas reist nach Moskau, um das Geheimnis der Handschrift zu lüften, und gerät auf die Spur eines unermesslichen Schatzes …

ALTERNATIVE LITERATUR

Eduard Limonov (Sawenko)
1943 in Moskau geboren. Seit Mitte der 70er Jahre in den USA und in Frankreich. Anfang 90er Jahre Rückkehr nach Russland. Beginn aktiver politischer Tätigkeit.
Limonov ist Führer der National-Bolschewiken-Partei und Gründer der radikalen Oppositionszeitung Limonka ("Eierhandgranate"). Er hat mehrere Überfälle überlebt.
Im April 2001 wurde Limonov in Moskau verhaftet. Offizielle Anklage war unbefugter Waffenbesitz. Im April 2003 wurde er zu vier Jahren Haft verurteilt. Anfang 2005 wurde er frei gelassen.

Viktor Pelevin
Pelewin wurde 1967 in Moskau geboren. Er absolvierte die Fachhochschule für Energetik und studierte am Gorkij-Literatur-Institut. Seit 1990 mehrmals Preisträger.

Vertreter des Postmodernismus. Roman „Tschapaev i Pustota“ („Tschapaew und Nichtigkeit“, 1996).
Um zu verstehen, worum es darin geht, muss man mit der Tschapaew-Tradition in der modernen russischen Kultur vertraut sein.

Wassilij Iwanowitsch Tschapaew war ein Held des Bürgerkriegs 1918-1922, in dem er umkam. Nach seinem Tod wurde er zu einem patriotischen kommunistischen Vorbild durch seine Romane und spätere Verfilmungen. Der Volksmund hat aus dem Heldenbild einen Witzhelden gemacht. Die Witze sind meistens Dialoge zwischen Tschapaew und seinem Helfer Petka:

Wassilij Iwanowitsch wechselt eine Birne an der Zimmerdecke. Er ist in schmutzigen Armeestiefeln auf den Tisch geklettert. Petka bemerkt: Wassilij Iwanowitch, du könntest wenigstens eine Zeitung unterlegen. - Tut nichts, Petka, so lange ich auch an die Decke.
Oder:Wassilij Iwanowitch, Weißgardisten sind in der Stadt! - Jage sie fort, Petka. Wir haben selber nichts zum fressen!

Pelewins Lieblingsthema ist Virtualität. Seine Texte stellen ein Labyrinth von Fragen dar: Was gibt’s? was gibt’s nicht? Und wenn es nichts gibt, kann man sagen, dass es dieses “es” auch nicht gibt? Buddhismus und orientalische Philosophie sind ebenfalls Merkmale seines Schreibens.

Werke: „Omon Ra“ (1993), „Das Insektenleben“ (1996), „Generation P“ u.a.

„Mir wurde plötzlich schlecht davon, daß ich in dieser kleinen, vollgespuckten Kammer hockte, wo es nach Müll stank, übel wurde mir bei dem Gedanken, daß ich eben aus einem dreckigen Glas Portwein getrunken hatte und daß dies ganze riesige Land, in dem ich lebte, aus vielen solcher kleiner, vollgespuckter Kammern bestand, wo es stank und der Portwein eben leergetrunken war (…)” (23–24)

Omon Ra – Sternchennudelsuppe, Huhn mit Reis und Kompott:

„Die wahre Freiheit konnte der Mensch nur durch Schwerelosigkeit erlangen – was übrigens der Grund war, weshalb mich alle möglichen voices aus dem Westradio wie auch die Bücher aller möglicher Solshenizyns so sehr langweilten; im Innersten ekelte der Staat mich zwar an, seine so unklaren wie düsteren Forderungen, die jede beliebige, gar nur für wenige Sekunden bestehende Gruppe von Menschen dazu zwangen, sich dem schamlosesten der Anwesenden tunlichst anzupassen; doch als ich einmal begriffen hatte, daß Friede und Freiheit auf Erden nicht zu haben waren, wandte ich mich im Geiste Höherem zu. Nichts von dem, was der nun gewählte Weg von mir verlangte, geriet mehr in Widerspruch mit meinem Gewissen, das Gewissen selbst war es, das mich in den Kosmos rief, und was auf der Erde vorging, interessierte mich wenig.” (12)

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Donnerstag, 4. Mai 2006
Literatur. Mikhail Kheraskov
Mikhail Kheraskov (5.11./25.10. 1733; gest. 9.10./27.9. 1807)



Rossijada

Kheraskov, der „Homer Rußlands“, war zu seiner Zeit ein bedeutender „epischer Dichter“ der russischen Klassik, Autor zahlreicher Theaterstücke.
1763 wurde er Leiter der Universität von Moskau. Sein ehrgeiziges Vorhaben war es, für Rußland ein nationales Epos zu verfassen, um damit auch die Unabhängigkeit der russischen Literatur zu demonstrieren. Seine „Russiade“ („Rossijada“) mit fast 9000 Versen entstand in den Jahren 1771 bis 1779. Sie gründet inhaltlich auf der Einnahme Kazans im Jahr 1552 durch Iwan den Schrecklichen und war von Tasso, ebenso von Voltaire beeinflußt. Nachahmungen bzw. Zitationen zeigen vielerlei Bezüge zu Homer, Vergil, Ovid, Lucan, Ariost, Milton u.v.a.
Jakob Michael Reinhold Lenz übertrug fünf Gesänge der „Russiade“ ins Deutsche.
Sein „Vladimir vozrozhdyonny“ (1785) erzählt von der Einführung des Christentums in Rußland.
Kheraskov verfaßte zwanzig Theaterstücke (darunter Tragödien und Komödien), in denen er sich an Regeln der modernen Dramaturgie orientierte. Er war zudem Herausgeber mehrerer Zeitschriften. „Plody nauk“ („Die Früchte der Wissenschaften“) von 1761 ist eine Streitschrift gegen Jean-Jacques Rousseaus Ablehnung des wissenschaftlichen Fortschritts. Bedeutend waren auch Kheraskovs zahlreichen Oden, etwa die „Anakreontischen Oden“ (1762).
Ander als im 18., spielte Kheraskovs Werk im 19. Jahrhundert kaum noch eine Rolle, heute ist er fast unbekannt.

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Donnerstag, 4. Mai 2006
Literatur.
Jurij Borev: "Anekdoty o Staline" (Stalinwitze) erscheint.

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Literatur. 1911: Anatolij Rybakov geboren
Anatolij Rybakov geboren (gest. 23.12.1998)

Kindheit in der Ukraine.
1919: Umsiedlung nach Moskau.
1933: Unter falschen Anschuldigungen wird er verhaftet und für drei Jahre nach Sibirien verbannt.

Seit Kriegsbeginn Soldat; Einmarsch mit der der Roten Armee in Berlin.
Nachkriegszeit: Rybakow schreibt Kinderbücher (Der Marinedolch, 1953; Der Bronzeadler, 1958: für sie bekam er den Stalinpreis für Literatur). Andere seiner Bücher durften in der SU nicht oder nur stark zensiert publiziert werden (etwa Schwerer Sand, 1978; Die Kinder vom Arbat).

Perestroika-Ära: Dieses und andere Werke erscheinen unzensiert.
1989: Rybakow wird erster Präsident des russischen Pen-Clubs.
Rybakovs Hauptwerk ist „Die Kinder von Arbat“, das als siebenbändiger Romanzyklus geplant war. Nach „Die Kinder von Arbat“ (Deti Arbata) erschienen „Jahre des Terrors“ und „Stadt der Angst“. Die Romane hatten eine nachdrückliche, ja schockierende Wirkung in der Zeit von Glasnost und Perestrojka, weil sie die Zustände unter dem Stalin’schen Terror unerbittlich in den Blick nahmen. Rybakov stellt dar, wie der Stalin’sche Terror funktionierte.
Der Roman entstand in den 1960er Jahren, durfte aber erst 1987 in der SU erscheinen. Er hat starke autobiographische Bezüge.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Sascha Pankratow und seiner Freunde aus dem Moskauer Arbat-Viertel. Die Handlung beginnt 1933. Sascha, Student und überzeugter Anhänger des Sozialismus, wird wegen angeblicher politischer Vergehen aus der Universität und dem kommunistischen Jugendverband ausgeschlossen. Im Kampf um seine Rehabilitation gerät er immer tiefer in die Mühlen des stalinistischen Willkürsystems. Er wird verhaftet und zu einer langjährigen Verbannung nach Sibirien verurteilt.
Die Parallelgeschichte erzählt u.a. von den Reaktionen seiner Freunde, die sich mit dem Regime zu arrangieren versuchen. Manche lassen sich durch die Aussicht auf beruflichen Erfolg und materielle Vorteile verführen. Allein Saschas Mutter Sophia Alexandrowna und seine Freundin Warja halten zu ihm.

Auszug aus: Anatolij Rybakow, Die Kinder vom Arbat, Köln 1988 (Kiepen-heuer & Witsch), S. 319-321

„Sie kramte ihr Taschentuch hervor und trocknete die Tränen.
„Ich werde Berufung einlegen, mein Fall ist doch ein Pappenstiel, nur die Sache mit der Hochschule.“
Der Wärter fuhr dazwischen: „Davon darf nicht gesprochen werden!“
Aber die Mutter erschrak nicht wie früher, wenn sie mit grober Amtsgewalt konfrontiert worden war. Ihr Gesicht nahm den ihm bekannten trotzigen Ausdruck an, sie härte Sascha konzentriert zu, ohne den Einwurf des Wärters zu beachten. Das war etwas Neues, das Sascha an seiner Mutter noch nicht kannte.
„Ich fahre nach Nowosibirsk, es wird sich alles regeln.“ „Sibirien“ wollte er nicht sagen, darum sagte er „Nowosibirsk“. „Sobald ich ankomme, schicke ich dir ein Telegramm, und dann schreibe ich dir auch. Arbeit finde ich bestimmt, Geld brauchst du mir nicht zu schicken.“
„Ich habe hundertfünfzig Rubel für dich dagelassen.“
„Warum denn so viel?“
„Außerdem Lebensmittel und Stiefel.“
„Stiefel kann ich brauchen, aber die Lebensmittel wären doch nicht notwendig gewesen.“
„Auch warme Socken und einen Schal“, sie sah hoch, „wieviel hast du gekriegt?“
„Einen Klacks: drei Jahre Verbannung. In einem halben Jahr bin ich zurück. War Papa da?“
„Er war im Januar da, jetzt konnte ich ihn nicht mal benachrichtigen, ich bin erst gestern angerufen worden. Wie geht’s dir gesundheitlich?“
„Ausgezeichnet! Ich war keinen Tag krank, die Verpflegung ist anständig. Ein Kurort!“
Er gab sich lustig, wollte sie aufmuntern, aber sie sah sein Leid, litt selbst, lächelte gequält über seine Scherze, wollte ihn auch ermutigen. Er sollte wissen, daß er nicht allein war, daß man für ihn sorgen würde.
„Vera hat so bedauert, daß du sie nicht genannt hast, sie ist mitgekommen, aber man hat sie nicht reingelassen, und Polina auch nicht.“
An die Tanten hatte er nicht gedacht.
Die Worte, die sie sich zurechtgelegt hatte, vermischten sich mit denen, die ihr jetzt einfielen:
„Paß gut auf dich auf, es geht alles vorbei. Meinetwegen mach dir bitte keine Sorgen, ich gehe arbeiten.“
„Als was denn?“
„Ich fange in einer Wäscherei an, in der Wäscheannahme, am Subowski-Boulevard, ganz in der Nähe, ich habe schon alles abgemacht.“
„In schmutziger Wäsche wühlen?“
„Alles schon abgemacht. Nicht jetzt, erst will ich dich in Sibirien besuchen.“
„Wozu das denn?“
„Ich komme!“
„Gut, das können wir ja brieflich ausmachen“, sagte Sascha einlenkend. „War jemand aus der Hochschule da?“
„So ein Kleiner, er schielt ein bißchen.“
Runotschkin! Also war den Freunden nichts passiert.
„Was hat er gesagt?“
„Er hat vom stellvertretenden Direktor gesprochen...“ Kriworutschko! Also saß er hier. Djakow hatte nicht gelogen.
Er ist der eigentliche Grund“, sagte Sascha.
Der Wärter stand auf.
„Die Besuchszeit ist abgelaufen.“
„Er ist der wahre Grund“, wiederholte Sascha. „Bestell das Mark.“
Sie nickte mehrmals, um zu bestätigen, daß sie verstanden hatte: Sascha war wegen des stellvertretenden Direktors verhaftet worden, das sollte Mark erfahren. Sie würde es ihm sagen, obwohl sie wußte, daß es zwecklos war. Alles war zwecklos. Sollte es bleiben, wie es war. Hauptsache, es kam nicht noch schlimmer. Die drei Jahre würden vergehen, eines Tages mußten sie ja vorbei sein.
„Sag ihm auch, daß ich keine Aussagen gemacht habe.“
Der Wärter schloß die Tür auf.
„Gehen Sie, Bürgerin!“
Sascha stand auf, umarmte die Mutter, sie vergrub den Kopf an seiner Schulter.
„Aber nicht doch!“ Sascha streichelte ihr weiches graues Haar, „es ist doch alles in Ordnung, wein doch nicht.“
„Gehen Sie jetzt, Bürgerin!“
Umarmen war verboten, einander berühren war verboten, aber alle umarmten und küßten sich.
„Na los, los“, mit geübter Schulterbewegung schob der Wärter die Mutter zur Tür. „Ich habe doch schon gesagt, Sie sollen gehen!“

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Literatur.
Erster Besuch Fjodor Dostojewskijs in Baden-Baden.

Spielbanken zogen Dostojewski magisch an.
„Hier gewinnt man 100000 Francs und amüsiert sich noch dabei“, schrieb er. Bald freilich verlor er alles, auch seine Lebensgefährtin Polina Suslova trennte sich von ihm. In ihrem Tagebuch notiert sie: „Jetzt warte ich jeden Augenblick, daß er kommt und sagt, er habe alles verspielt. Dann werden wir wieder Kleider und Paletot verpfänden. Ach wie mir das alles zuwider ist.“
Dostojewskij kehrte nach Rußland zurück. Seine Erlebnisse verarbeitete er im Roman „Der Spieler“. Er besuchte Baden-Baden wieder 1867. Mit seiner neuen Frau lebte er in einer kleinen Wohnung in der Bäderstraße 2. Als wiederum alles Geld verspielt war, verließ das Ehepaar die Stadt. Wenig später befreite sich Dostojewskij von seiner Spielleidenschaft. Er schrieb die Romane „Schuld und Sühne“ und „Der Idiot“.
Das Dostojewski-Haus in Baden-Baden befindet sich in der Bäderstraße 2.

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Sonntag, 30. April 2006
Literatur. Wladimir Sorokin
7.10. 1955: Wladimir Sorokin geboren.



Studium der Petrochemie.
Arbeit als Buchillustrator.
Ende der siebziger Jahre: Erste literarische Anerkennung. Sein in zehn Sprachen übersetzter Roman "Die Schlange" machte ihn berühmt.

Sorokin gehört zu jenen Autoren, die ohne Publikationsmöglichkeit im Inland schrieben. Obwohl seine Texte seit 1985 im Ausland erscheinen, konnten sie in der SU erst 1989 veröffentlicht werden.
Sorokin ist Mitglied des russischen PEN-Club.
2005: Preisträger des Preises „Liberty“ des deutschen Kultusministeriums.
70er Jahre: Dichtergruppe d. „Moskauer Konzeptualisten“ (skandalumwitterte Kunstinszenierungen und Untergrundvernissagen).

Sorokin ist Verfasser von Romanen, Theaterstücken und Hörspielen.
1998 lehrte er ein Semester im Rahmen einer Gastprofessur an der Freien Universität in Berlin.

Sorokin wird als „führendes Monster der neuen russischen Literatur“ bezeichnet. In seinen Werken artikuliert er mit dekonstruktivem Erzählen, obszöner Sprache, Kannibalismus, Gewalt und Perversion die Zerrissenheit der russischen Kultur, in der das Böse und der Zerfall zu einer Metapher des Lebens wurde.
Seie Figuren sind oft auf Triebbefriedigung reduzierte Wesen. Sorokins Werke beginnen zumeist idyllisch, um in Phantasmagorien der Gewalt zu enden. Seine Sprache imitiert dabei virtuos verschiedenste Stile und Sprachschablonen.
Auf Deutsch erschienen: "Die Schlange" (1990), "Marinas dreißigste Liebe" (1991), "Der Obelisk" (1992), "Ein Monat in Dachau" (1992), "Die Herzen der Vier" (1993), "Roman" (1995), "Pelmeni/ Hochzeitsreise, Die Norm und Der himmelblaue Speck (2000).“
Spektakulär war eine Aktion der Sorokin-Gegner Ende Juni im Zentrum Moskaus. Das Allerheiligste der Moskauer wurde entweiht, der Platz vor dem Bolschoi-Theater - mit einer riesigen Toilette. In die Kloake sollten sie gespült werden, die Bücher Sorokins, forderten die Vertreter der Jugendorganisation Gemeinsamer Weg.
Die meisten Büchervernichter sind allerdings in die Jahre gekommene Vaterlandsverteidiger, Anhänger Stalins und der SU. „Wir sind gegen Pornografie“, schimpften Frauen bei der Aktion. „Wir kennen Sorokins Bücher zwar nicht, aber wir sind gegen Pornografie.“ Und die Verlage, die seine Bücher drucken, möchten sie nun am liebsten verboten sehen.
Kenner der Sorokinschen Bücher bescheinigen ihm einen kräftigen Naturalismus. Auch das Schöne gerate in seiner Literatur drastisch: Dies sei freilich normal, wenn jemand das häßliche Antlitz des bourgeoisen Rußland zeichne. Sorokin selbst hat unterdessen Gegenmaßnahmen angekündigt. Auch er werde vor Gericht ziehen, weil seine Gegner einzelne Stellen aus seinen Romanen sinnentstellend veröffentlichen würden. Bei Stalin habe man mißliebige Dichter heimlich erschossen. Jetzt würden sie öffentlich angeprangert, wie in China zu Zeiten der Kulturrevolution. „Es ist wirklich schrecklich“, lautet Sorokins Fazit.

„Ich fühle mich überhaupt nicht frei auf diesem Planeten“, sagt Vladimir Sorokin. „Es gibt keine Freiheit - nur Gespenster der Freiheit. Solange wir uns in diesem Körper befinden und von unserer eigenen Physiologie und Psychosomatik völlig abhängig sind, können wir nicht frei sein.“

Seit Beginn der Achtziger Jahre gehört Sorokin zu den Moskauer Konzeptualisten, die sich die Traditionen der Avantgarde radikal aneignen. Sie wenden sich gegen die offizielle Sowjetliteratur, gegen den Klassikerkult, gegen die neonationalistische Dorfprosa, die moralisch ausgerichtete Dissidenten-Literatur.
Die Konzeptualisten sehen in ihnen Elemente in einem unüberwindlichen System.

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Samstag, 29. April 2006
Literatur. 1799: Puschkin geboren
Alexander Puschkin geboren



Er gilt als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller und als Begründer der russischen Literatursprache. Er verfaßte epische und lyrische Dichtungen, Dramen, Romane und Erzählungen.
Hauptwerk: Evgenij Onegin (1833; Eugen Onegin).
Textauswahl:

http://home.arcor.de/berick/illeguan/pushkin1.htm

- Gymnasium in Car’skoe Selo.
- Früher Beginn der literarischen Tätigkeit.
- Stellung beim „Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten“.
- 1814: Erstes Gedicht veröffentlicht.
- Neben dem für Puschkin wichtigen Thema Liebe stehen politische Epigramme und Gedichte, die dem Dekabrismus verpflichtet sind.
- Reisen in den Kauskasus und auf die Krim: „Der Gefangene im Kaukasus“ (1821), „Die Fontäne von Bachčisaraj“ (1822). Diese Werke zeigen Einflüsse von Byron und sind der Romantik verpflichtet.
- Versetzung nach Odessa: Beginn seines Hauptwerks „Evgenij Onegin“. (Vgl. a. 1879: Tschaikowski)
- 1824: Entlassung aus dem Staatsdienst, Verbannung nach Michajlovskoe, einem Gut seines Vaters. Intensive Kontakte zur Sprache des ‚einfachen’ Volks. Puschkin hat der „Volkssprache“ weltliterarische Geltung verschafft.
- Nikolaus I. holt Puschkin nach Petersburg zurück, er wird aber der unmittelbaren Zensur unterstellt. Puschkins Bindung an den Hof soll einen latenten Oppositionellen still stellen.
- Die Zensur wird von Puschkin immer wieder thematisiert. Selbst scheinbar zarentreue Werke wie „Boris Godunov“ (1825) oder „Der kupferne Reiter“ (1833) finden keinen Anklang bei Hofe.
- 1831 heiratet er Natalja Gončarova. Er gibt er aus wirtschaftlichen Gründen den Beruf des freien Schriftstellers auf und geht wieder in den Staatsdienst. Sein Werk wird nun von der Prosa geprägt. Hervorzuheben sind hier „Belkins Erzählungen“ (1830) und der Kurzroman „Die Hauptmannstochter“ (1833).

Lit.: Juri Lotman: Alexander Puschkin. Leipzig 1989

Evgenij Onegin, erschienen 1825-1833.

Eugen Onegin, ein junger Petersburger Dandy, hat alle Genüsse des Großstadtlebens ausgekostet. Nun empfindet er nur noch Überdruß und Langeweile. Wegen einer Erbschaft auf dem Land verläßt er die Stadt. Das Landleben aber widert ihn an, er kehrt in die Stadt zurück. Sein junger Nachbar Lenskij, ein schwärmerischer, dichtender „Göttinger“ (er hat in Göttingen studiert), macht ihn mit den Larins bekannt, deren Tochter Olga er liebt. Olgas ältere Schwester Tatjana verliebt sich in Eugen und gesteht es ihm in einem Brief. Eugen erklärt ihr, daß er sich nicht zum Familienleben eigne und warnt Tatjana vor zu schnellen Liebesbekenntnissen. Als Tatjana ihren Namenstag feiert, tanzt Eugen provokativ nur mit ihrer Schwester. Darüber ist Lenskij empört. Er schickt ihm aus Eifersucht eine Duell-Forderung. Eugen tötet ihn und verläßt sein Landgut. Olga tröstet sich, heiratet bald einen Ulanenoffizier. Tatjana heiratet in Moskau einen General. Eugen sieht Tatjana zufällig in Moskau auf einem Ball wieder. Er verliebt sich in sie und gesteht ihr in einem Brief seine Liebe. Tatjana weist ihn ab, obwohl sie ihn noch liebt.
Mit diesem Roman in Versen, wie der Autor sein Meisterwerk zum allgemeinen Erstaunen nannte, überwand Puškin den Byronismus in der russischen Literatur und leitete die Periode des großen, realistisch-poetischen Romans ein. Erstmals in der russischen Literatur begegnen in diesem Werk Menschen, die zu "Tausenden in der Wirklichkeit wiederzufinden sind" (wie der Romancier Bestuzev Marlinskij abschätzig meinte). Dies gilt nicht nur von den vielen Nebenfiguren (mehr als hundert Personen werden genannt), sondern ebenso für die vier Hauptpersonen Eugen, Tatjana, Lenskij und Olga, die wohl unverwechselbare Individuen sind, aber auch als Typen erkennbar werden.
Eugen Onegin ist der Prototyp des „überflüssigen Menschen“. Der achtzehnjährige Jüngling mit der „vor der Zeit gealterten Seele“ ist begabt, aber er leidet unter der Sterilität seiner Umwelt und ist unfähig, sich aus ihr zu lösen. Als er Petersburg verläßt, wird er als „spleenig“ bezeichnet. Später, während seiner Reise auf das Landgut, begleitet ihn die Schwermut. In der Provinz wird er bald als „höchst gefährlicher Kauz“ angesehen, weil er das Los seiner leibeigenen Bauern erleichtert. Seine Haltung gegenüber Tatjana ist kühl, überlegen, einmal gönnerhaft, dann wieder zynisch. Tatjana ist ein Mädchen, das in einer Bücherwelt lebt und dem „holden Trug“ ergeben ist. In ihrem Brief an Onegin spricht sie anfangs davon, daß beide füreinander bestimmt sind. Später, als sie in Onegins verlassenem Haus seine Bücher samt ihren Anmerkungen sieht, fragt sie sich, ob er wohl „ein Engel, ein Teufel, ein nichtiges Gespenst ... oder ein Moskoviter in Childe Harolds Mantel“ sei, und sie weiß, „er kann mir kein Glück geben“. Nach ihrer Wiederbegegnung in Moskau und Onegins Liebesgeständnis erkennt sie: „Jetzt ist die Reihe an mir“, ihm eine „Lektion“ zu erteilen“. Als Onegin vor ihr kniet, sagt sie ihm, daß sie ihn noch liebe. Doch weist sie ihn ab, weil sie verheiratet ist. Der Romantiker Lenskij erscheint bei Puškin in ironischem Licht. Er mokiert sich v.a. über dessen pseudoromantischen Gedichte. Er läßt den wirklichkeitsblinden Jüngling nicht Tatjana, sondern Olga interessant finden, deren Gesicht „so rund ist wie der dumme Mond dort überm dummen Horizont“. Lenskijs letztes Gedicht nennt Puškin „Liebesquatsch, wie Del'vig ihn redet, wenn er betrunken ist, ... schwächlich und unklar“. (Baron Del’vig war ein damals bekannter Lyriker der „Plejade“, des Dichterkreises um Puškin.)
Puškin verwendet die volkstümliche Sprache so meisterhaft wie die dichterisch gehobene. Beide Schichten wechseln miteinander in Abstufungen. Innovativ sind die zahlreichen Reime auf Fremdwörter, ungebräuchliche Betonungen, damals noch nicht literaturfähige Adverbien, psychische oder dynamische Epitheta, Antithesen, Abschweifungen und Apostrophierungen.
Als Fortsetzung waren zwei weitere Kapitel geplant: Onegins Reise, von dem aus politischen Gründen nur neunzehn Strophen als Anhang veröffentlicht wurden, und ein zehntes Kapitel (aus dem Morosov im Jahre 1910 chiffrierte Strophen fand), das Puškin aus Furcht vor der Zensur verbrannte: hierin kam z.B. Alexander I. als „glatzköpfiger Geck“ vor.
Belinskij qualifizierte das Werk als „Enzyklopädie russischen Lebens“. Nicht nur schildert Puškin das Alltagsleben der gehobenen Mittelschicht und ihrer Umwelt präzise, es gibt auch in der Welt der Natur nichts, was von ihm nicht beschrieben wäre.

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Literatur. Romantik in Rußland.
An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beginnt in Rußland die Romantik.

Am 12. Januar 1801 gründeten in Moskau zehn junge Literaten und Studenten, meist aus dem Adelspensionat der Universität, einen „Literarischen Freundeskreis“.

Für eine spürbare Einflußnahme auf die Literaturentwicklung fehlte es ihnen zwar an soliden Kenntnissen und der nötigen Lebenserfahrung. Ihr Versuch bleibt gleichwohl bemerkenswert, die Poesie gegenüber Philosophie, Ethik und Religion aufzuwerten und die russische Literatur aus den Fesseln des Klassizismus zu befreien.

Ästhetische Vergleichsmaßstäbe waren Shakespeares Dramen, Schillers Gedichte und Balladen sowie Goethes „Werther“.

Andrej Turgenjew, Sohn des Rektors der Moskauer Universität und begabtester Kritiker dieses Kreises, konzipierte mit seinen Freunden ein literarisches Programm, das die Entwicklung der russischen Romantik in den allgemeinsten Zügen vorwegnimmt. Er forderte eine von allen ausländischen Einflüssen freie Nationalliteratur und rief die Dichter auf, in ihren Werken den Geist des Volkes wiederzugeben, der vorerst für ihn nur in Volksliedern und Märchen zum Ausdruck kam. In Anlehnung an den englischen Philosophen Shaftesbury und den deutschen „Sturm und Drang“ sah Turgenjew in der Poesie die höchste schöpferische Leistung des menschlichen Geistes. Er erhob den Dichter zum Propheten und Lehrmeister seiner Nation.
Michail Kaissarow, ein anderes Mitglied dieser Vereinigung, sah in der Lyrik die Offenbarung eines empfindsamen Herzens und das Werk dichterischer Phantasie, die dem Künstler jenseits aller Axiome einer rationalistischen Philosophie und poetischer Regeln des Klassizismus das Wesen des menschlichen Daseins enträtselt.

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