Freitag, 5. Mai 2006
Literatur. Russische Gegenwartsliteratur (Beispiele).
Von
Maria Petrochenkova


Zwei Typen der russischen Literatur lassen sich gegenwärtig deutlich unterscheiden:

1) „Massenliteratur“ – v.a. Kriminalromane in Millionen-Auflagen.
2) „Alternative“ AutorInnen.

Kriminalromane

Alexandra Marinina
Sie wird die russische Agatha Christie genannt.
In den 90er Jahren: Gründerin der kommerziellen Literatur in Russland. Der Erfolg ihrer Romane war ein kulturelle Ereignis.
Die reine Unterhaltungsfunktion der 'schönen' Literatur galt für russische Autoren vor Marinina ein Skandal.
Marininas Kriminalromane sind in mehrere Sprachen (auch ins Deutsche) übersetzt.

Sie wurde 1957 in Moskau geboren.
Nach dem Jura-Studium an der Moskauer Lomonossow-Universität arbeitete sie 1979-1998 als wiss. Mitarbeiterin an verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen der Polizei.
Ihr Forschungsschwerpunkt war die 'kriminelle' Persönlichkeit mit psychischen Verhaltensstörungen.

•Seit 1992 schreibt sie Krimis. Alle Romane haben eine gemeinsame Heldin: Nastja Kamenskaja.
Kamenskaja ist gut gebildet (sie beherrscht fünf Fremdsprachen) und ist verheiratet. Sie hat einen unabhängigen, selbstbewussten Charakter. Ihre Kollegen (es sind meist Männer) respektieren sie als Profi. Bei ihrem Mann und Vorgesetzten führt sie sich eher wie eine gehorsame vernünftige Tochter auf.
Kamenskaja präsentiert ein neues Weiblichkeitbild, das in Russland sehr positiv aufgenommen wird.
• Die Krimis wurden 2003 als Serie verfilmt.

„Über die Jahre hatte ich viel mit dem Verbrechen zu tun und ich verstand, dass am Verbrechen an sich weder etwas interessantes ist noch jemals sein kann. Deswegen sind meine Bücher nicht über Verbrechen. Sie sind über Menschen, ihre Leben, ihre Seelen, ihre Gedanken, über alles, was hinter ihren Handlungen steckt - auch wenn ihre Handlungen Verbrechen sind.“

Werkbeispiel: Der gestohlene Traum.

Für A. Kamenskajas Kollegen scheint der Fall klar: Die schöne junge Sekretärin und Gelegenheitsprostituierte Vika Jeremina, die in einem Waldstück in der Nähe von Moskau ermordet aufgefunden wurde, ist Opfer ihres ungewöhnlichen Lebenswandels und einer schweren psychischen Erkrankung. Für N. Kamenskaja beginnt der schwierigste Fall ihrer Laufbahn als Kripobeamtin. Es gibt eine undichte Stelle in der Obersten Kriminalbehörde Moskaus, mindestens einer ihrer Kollegen arbeitet für die örtliche Mafia und untergräbt ihre Ermittlungen. Aber wer?
Bei einer Reise nach Rom macht sie eine Entdeckung, die die Mordsache Jeremina in ein völlig neues Licht rückt, und gerät damit selbst ins Visier der Mafia...

Polina Daschkowa
1960 in Moskau geboren. Sie hat kurz an der Fakultät für Journalistik der Mosakuer Lomonossow-Universität studiert, danach wechselte sie zum renommierten Gorkij-Literatur-Institut. Daschkowa arbeitete für Verlags- und Zeitschriftenredaktionen.
Anfang der 90er Jahre war sie als Simultandolmetscherin für Englisch beim russischen Parlament beschäftigt.

Ihre Karriere als Schriftstellerin begann mit Gedichten, die Ende der 70er Jahre in verschiedenen Literaturzeitschriften erschienen.

1996: erscheint ihr erster Kriminalroman, der in kürzester Zeit die Spitze der russischen Buchcharts erreichte.

Daschkowa schickt ihre Figuren in den chaotischen Alltag des neuen Russland, in das Gewimmel der „neuen“ Russen, ins Showbusiness, zu Prostituierten, die Mafia und zu den gewöhnlichen Menschen in Moskau und der Provinz. Ihre Kriminalromane sind eine gekonnte Mischung aus Spannung und sozialer Studie.

Auf Deutsch erschienen:
"Die leichten Schritte des Wahnsinns" (2001) und "Club Kalaschnikow" (2002).

„Das Schreiben ist die angeborene Pathologie der Sinnesorgane oder des Stoffwechsels, bei der alles, was man sieht, hört oder sogar riecht, unbedingt in literarischer Form ausgedrückt werden muss.“

Werkbeispiel: Für Nikita.

Es war die ganz große Liebe, sie galten als unzertrennlich: Nika und Nikita, die Medizinstudentin und der junge Dichter. Aber Nika hat dann Grigori Russow geheiratet, den einflußreichen Politiker, der gerade in Sibirien zum Gouverneur gewählt wurde. Auch Nikita ist verheiratet, die weiblichen Hauptgestalten seiner Krimis aber tragen Nikas Züge. In letzter Zeit schreibt Nikita nicht an einem neuen Roman, sondern an Russows Biographie - eine Auftragsarbeit, die ihn in tödliche Gefahr bringt.
Als Nikitas Tod offiziell bekannt wird, nimmt Nika die nächste Maschine nach Moskau: Sie will dem Tod des Mannes auf den Grund gehen, der ihre einzige große Liebe war. Doch Nika tritt ihre Reise heimlich an, sie wird verfolgt von den Bodyguards ihres Mannes und von einem geheimnisvollen Fremden.

Agrippina Donzowa
1952 in Moskau geboren. Nach dem Journalistik-Studium an der Lomonossow-Universität arbeitete sie als Dolmetscherin für Französisch im sowjetischen Konsulat in Syrien, in Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen.

1998 erkrankte sie an Krebs. Ihre ersten fünf Romane hat sie im Krankenhaus geschrieben.
Sie hat ein paar Dutzend Romane verfaßt. Ihr Genre ist der ironische Krimi. In Russland gehört sie zu den meistgelesenen Krimiautoren und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Russischen Krimipreis. Einige Bücher wurden zu Krimiserien verfilmt.

Werkbeispiel:
Als Dascha Wassiljewa erfährt, dass ihr Exmann Maxim Poljanskij seine 7. Ehefrau umgebracht haben soll, kann sie es nicht glauben. Leider sprechen alle Fakten gegen den erfolgreichen Eierhändler: er hat ein falsches Alibi und wurde am Tatort blutverschmiert gesehen. Doch Dascha kennt den unverbesserlichen Schürzenjäger sehr gut und ist überzeugt, dass Poljanksij nie einer schlafenden Frau ins Gesicht schießen könnte. Um seine Unschuld zu beweisen, nimmt sie selbst die Ermittlungen auf. Weitere Morde machen den Fall verwirrend. Die mutige Hobby-Detektivin geht mit unkonventionellen Mitteln vor, schafft es vieles aufzuklären und gerät dabei selbst in Gefahr.

Boris Akunin (= Georgij Thschhartischwili) wurde 1956 in Moskau geboren.

„Ich spiele leidenschaftlich gern. Früher habe ich Karten gespielt, dann strategische Computerspiele. Schließlich stellte sich heraus, daß Krimis schreiben noch viel spannender ist als Computerspiele. Meine ersten drei Krimis habe ich zur Entspannung geschrieben.“

Akunin stammt aus einer georgischen Familie und studierte in Moskau an der Fakultät für orientalische Sprachen der Lomonosswow-Universität. Er arbeitete als Literaturwissenschaftler, Kritiker, Essayist und Übersetzer aus dem Japanischen. Der Name B. Akunin ist ein Pseudonym, das auf den berühmten russischen Anarchisten Bakunin anspielt.

1998: erste Kriminalromane, die ihm schnell eine gewaltige Popularität einbrachten. Seine Kriminalabenteuer sind mit ihrer historischen Situierung zugleich Einführungen in die Geschichte des vorrevolutionären Russlands. Sie führen in stilvoller Sprache (Akunins Sprachspielereien schöpfen hier deutlich aus Dostojewskis sprachlichem Reservoir) den Leser in das Russland des 19. Jahrhunderts und brachten den Autor an die Spitze der Beliebtheitsskala der russischen Unterhaltungsliteratur.

Seine Helden läßt Akunin auf Doppelgänger bekannter klassischer Romanfiguren stoßen. Sie rufen ein literarisches déjà-vu-Erlebnis nach dem anderen hervor. Als geschickt konstruierte Sprachspiele sind Akunins Kriminalromane eine Hommage an die große russische Literatur des 19. Jahrhunderts. Als Autor für geistreiche und auch literarisch anspruchsvolle Kriminalromane steht Akunin als Vertreter der Trivialliteratur, eines verunglimpften Genres, das jedoch in jüngster Zeit auf immer mehr Beachtung trifft.

Auf Deutsch erschienen bisher die Romane "Fandorin" (2001), "Türkisches Gambit" (2001) und "Mord auf der Leviathan" (2002). Fast alle seine Krimis wurden in letzten drei Jahren verfilmt.

Werkbeispiel: Die Bibliothek des Zaren:
Als der englische Historiker Nikolas Fandorin, Nachkomme des berühmten Detektivs Erast Fandorin, von seinem Vater alte Dokumente erbt, beginnt er, sich für die Geschichte seiner Familie zu interessieren. Besonders ein Erbstück hat es ihm angetan: eine geheimnisvolle Handschrift seines Vorfahren Kornelius von Dorn, der im 17. Jahrhundert als Söldner nach Russland gekommen war. Nikolas reist nach Moskau, um das Geheimnis der Handschrift zu lüften, und gerät auf die Spur eines unermesslichen Schatzes …

ALTERNATIVE LITERATUR

Eduard Limonov (Sawenko)
1943 in Moskau geboren. Seit Mitte der 70er Jahre in den USA und in Frankreich. Anfang 90er Jahre Rückkehr nach Russland. Beginn aktiver politischer Tätigkeit.
Limonov ist Führer der National-Bolschewiken-Partei und Gründer der radikalen Oppositionszeitung Limonka ("Eierhandgranate"). Er hat mehrere Überfälle überlebt.
Im April 2001 wurde Limonov in Moskau verhaftet. Offizielle Anklage war unbefugter Waffenbesitz. Im April 2003 wurde er zu vier Jahren Haft verurteilt. Anfang 2005 wurde er frei gelassen.

Viktor Pelevin
Pelewin wurde 1967 in Moskau geboren. Er absolvierte die Fachhochschule für Energetik und studierte am Gorkij-Literatur-Institut. Seit 1990 mehrmals Preisträger.

Vertreter des Postmodernismus. Roman „Tschapaev i Pustota“ („Tschapaew und Nichtigkeit“, 1996).
Um zu verstehen, worum es darin geht, muss man mit der Tschapaew-Tradition in der modernen russischen Kultur vertraut sein.

Wassilij Iwanowitsch Tschapaew war ein Held des Bürgerkriegs 1918-1922, in dem er umkam. Nach seinem Tod wurde er zu einem patriotischen kommunistischen Vorbild durch seine Romane und spätere Verfilmungen. Der Volksmund hat aus dem Heldenbild einen Witzhelden gemacht. Die Witze sind meistens Dialoge zwischen Tschapaew und seinem Helfer Petka:

Wassilij Iwanowitsch wechselt eine Birne an der Zimmerdecke. Er ist in schmutzigen Armeestiefeln auf den Tisch geklettert. Petka bemerkt: Wassilij Iwanowitch, du könntest wenigstens eine Zeitung unterlegen. - Tut nichts, Petka, so lange ich auch an die Decke.
Oder:Wassilij Iwanowitch, Weißgardisten sind in der Stadt! - Jage sie fort, Petka. Wir haben selber nichts zum fressen!

Pelewins Lieblingsthema ist Virtualität. Seine Texte stellen ein Labyrinth von Fragen dar: Was gibt’s? was gibt’s nicht? Und wenn es nichts gibt, kann man sagen, dass es dieses “es” auch nicht gibt? Buddhismus und orientalische Philosophie sind ebenfalls Merkmale seines Schreibens.

Werke: „Omon Ra“ (1993), „Das Insektenleben“ (1996), „Generation P“ u.a.

„Mir wurde plötzlich schlecht davon, daß ich in dieser kleinen, vollgespuckten Kammer hockte, wo es nach Müll stank, übel wurde mir bei dem Gedanken, daß ich eben aus einem dreckigen Glas Portwein getrunken hatte und daß dies ganze riesige Land, in dem ich lebte, aus vielen solcher kleiner, vollgespuckter Kammern bestand, wo es stank und der Portwein eben leergetrunken war (…)” (23–24)

Omon Ra – Sternchennudelsuppe, Huhn mit Reis und Kompott:

„Die wahre Freiheit konnte der Mensch nur durch Schwerelosigkeit erlangen – was übrigens der Grund war, weshalb mich alle möglichen voices aus dem Westradio wie auch die Bücher aller möglicher Solshenizyns so sehr langweilten; im Innersten ekelte der Staat mich zwar an, seine so unklaren wie düsteren Forderungen, die jede beliebige, gar nur für wenige Sekunden bestehende Gruppe von Menschen dazu zwangen, sich dem schamlosesten der Anwesenden tunlichst anzupassen; doch als ich einmal begriffen hatte, daß Friede und Freiheit auf Erden nicht zu haben waren, wandte ich mich im Geiste Höherem zu. Nichts von dem, was der nun gewählte Weg von mir verlangte, geriet mehr in Widerspruch mit meinem Gewissen, das Gewissen selbst war es, das mich in den Kosmos rief, und was auf der Erde vorging, interessierte mich wenig.” (12)

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