Mittwoch, 3. Mai 2006
Literatur. 1911: Anatolij Rybakov geboren
Anatolij Rybakov geboren (gest. 23.12.1998)

Kindheit in der Ukraine.
1919: Umsiedlung nach Moskau.
1933: Unter falschen Anschuldigungen wird er verhaftet und für drei Jahre nach Sibirien verbannt.

Seit Kriegsbeginn Soldat; Einmarsch mit der der Roten Armee in Berlin.
Nachkriegszeit: Rybakow schreibt Kinderbücher (Der Marinedolch, 1953; Der Bronzeadler, 1958: für sie bekam er den Stalinpreis für Literatur). Andere seiner Bücher durften in der SU nicht oder nur stark zensiert publiziert werden (etwa Schwerer Sand, 1978; Die Kinder vom Arbat).

Perestroika-Ära: Dieses und andere Werke erscheinen unzensiert.
1989: Rybakow wird erster Präsident des russischen Pen-Clubs.
Rybakovs Hauptwerk ist „Die Kinder von Arbat“, das als siebenbändiger Romanzyklus geplant war. Nach „Die Kinder von Arbat“ (Deti Arbata) erschienen „Jahre des Terrors“ und „Stadt der Angst“. Die Romane hatten eine nachdrückliche, ja schockierende Wirkung in der Zeit von Glasnost und Perestrojka, weil sie die Zustände unter dem Stalin’schen Terror unerbittlich in den Blick nahmen. Rybakov stellt dar, wie der Stalin’sche Terror funktionierte.
Der Roman entstand in den 1960er Jahren, durfte aber erst 1987 in der SU erscheinen. Er hat starke autobiographische Bezüge.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Sascha Pankratow und seiner Freunde aus dem Moskauer Arbat-Viertel. Die Handlung beginnt 1933. Sascha, Student und überzeugter Anhänger des Sozialismus, wird wegen angeblicher politischer Vergehen aus der Universität und dem kommunistischen Jugendverband ausgeschlossen. Im Kampf um seine Rehabilitation gerät er immer tiefer in die Mühlen des stalinistischen Willkürsystems. Er wird verhaftet und zu einer langjährigen Verbannung nach Sibirien verurteilt.
Die Parallelgeschichte erzählt u.a. von den Reaktionen seiner Freunde, die sich mit dem Regime zu arrangieren versuchen. Manche lassen sich durch die Aussicht auf beruflichen Erfolg und materielle Vorteile verführen. Allein Saschas Mutter Sophia Alexandrowna und seine Freundin Warja halten zu ihm.

Auszug aus: Anatolij Rybakow, Die Kinder vom Arbat, Köln 1988 (Kiepen-heuer & Witsch), S. 319-321

„Sie kramte ihr Taschentuch hervor und trocknete die Tränen.
„Ich werde Berufung einlegen, mein Fall ist doch ein Pappenstiel, nur die Sache mit der Hochschule.“
Der Wärter fuhr dazwischen: „Davon darf nicht gesprochen werden!“
Aber die Mutter erschrak nicht wie früher, wenn sie mit grober Amtsgewalt konfrontiert worden war. Ihr Gesicht nahm den ihm bekannten trotzigen Ausdruck an, sie härte Sascha konzentriert zu, ohne den Einwurf des Wärters zu beachten. Das war etwas Neues, das Sascha an seiner Mutter noch nicht kannte.
„Ich fahre nach Nowosibirsk, es wird sich alles regeln.“ „Sibirien“ wollte er nicht sagen, darum sagte er „Nowosibirsk“. „Sobald ich ankomme, schicke ich dir ein Telegramm, und dann schreibe ich dir auch. Arbeit finde ich bestimmt, Geld brauchst du mir nicht zu schicken.“
„Ich habe hundertfünfzig Rubel für dich dagelassen.“
„Warum denn so viel?“
„Außerdem Lebensmittel und Stiefel.“
„Stiefel kann ich brauchen, aber die Lebensmittel wären doch nicht notwendig gewesen.“
„Auch warme Socken und einen Schal“, sie sah hoch, „wieviel hast du gekriegt?“
„Einen Klacks: drei Jahre Verbannung. In einem halben Jahr bin ich zurück. War Papa da?“
„Er war im Januar da, jetzt konnte ich ihn nicht mal benachrichtigen, ich bin erst gestern angerufen worden. Wie geht’s dir gesundheitlich?“
„Ausgezeichnet! Ich war keinen Tag krank, die Verpflegung ist anständig. Ein Kurort!“
Er gab sich lustig, wollte sie aufmuntern, aber sie sah sein Leid, litt selbst, lächelte gequält über seine Scherze, wollte ihn auch ermutigen. Er sollte wissen, daß er nicht allein war, daß man für ihn sorgen würde.
„Vera hat so bedauert, daß du sie nicht genannt hast, sie ist mitgekommen, aber man hat sie nicht reingelassen, und Polina auch nicht.“
An die Tanten hatte er nicht gedacht.
Die Worte, die sie sich zurechtgelegt hatte, vermischten sich mit denen, die ihr jetzt einfielen:
„Paß gut auf dich auf, es geht alles vorbei. Meinetwegen mach dir bitte keine Sorgen, ich gehe arbeiten.“
„Als was denn?“
„Ich fange in einer Wäscherei an, in der Wäscheannahme, am Subowski-Boulevard, ganz in der Nähe, ich habe schon alles abgemacht.“
„In schmutziger Wäsche wühlen?“
„Alles schon abgemacht. Nicht jetzt, erst will ich dich in Sibirien besuchen.“
„Wozu das denn?“
„Ich komme!“
„Gut, das können wir ja brieflich ausmachen“, sagte Sascha einlenkend. „War jemand aus der Hochschule da?“
„So ein Kleiner, er schielt ein bißchen.“
Runotschkin! Also war den Freunden nichts passiert.
„Was hat er gesagt?“
„Er hat vom stellvertretenden Direktor gesprochen...“ Kriworutschko! Also saß er hier. Djakow hatte nicht gelogen.
Er ist der eigentliche Grund“, sagte Sascha.
Der Wärter stand auf.
„Die Besuchszeit ist abgelaufen.“
„Er ist der wahre Grund“, wiederholte Sascha. „Bestell das Mark.“
Sie nickte mehrmals, um zu bestätigen, daß sie verstanden hatte: Sascha war wegen des stellvertretenden Direktors verhaftet worden, das sollte Mark erfahren. Sie würde es ihm sagen, obwohl sie wußte, daß es zwecklos war. Alles war zwecklos. Sollte es bleiben, wie es war. Hauptsache, es kam nicht noch schlimmer. Die drei Jahre würden vergehen, eines Tages mußten sie ja vorbei sein.
„Sag ihm auch, daß ich keine Aussagen gemacht habe.“
Der Wärter schloß die Tür auf.
„Gehen Sie, Bürgerin!“
Sascha stand auf, umarmte die Mutter, sie vergrub den Kopf an seiner Schulter.
„Aber nicht doch!“ Sascha streichelte ihr weiches graues Haar, „es ist doch alles in Ordnung, wein doch nicht.“
„Gehen Sie jetzt, Bürgerin!“
Umarmen war verboten, einander berühren war verboten, aber alle umarmten und küßten sich.
„Na los, los“, mit geübter Schulterbewegung schob der Wärter die Mutter zur Tür. „Ich habe doch schon gesagt, Sie sollen gehen!“

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