Montag, 8. Mai 2006
Literatur: Das Märchen von sadko
Sadko ist eine Figur der volkstümlichen Heldendichtung.

Das Märchen von Sadko

Im fernen Rußland, in der reichen Stadt Nowgorod, lebte einst ein Jüngling mit Namen Sadko. Er war nicht reich, brachte aber allen, wohin er kam, Glück und Freude. Sadko war Guslispieler, und die Gusli, seine Kniegeige, war sein einziger Besitz. Die Lieder, die er sang und spielte, rührten zum Weinen und lockten zum Lachen, stärkten die Seele und labten das Herz. Überall, auf jedem Fest in Nowgorod,
mußte Sadko spielen. Wo Sadko nicht war, fehlten die Lieder, und wo sie fehlten, trauerte das Herz.
Und wenn es trauerte, wo waren dann die Gäste?
So lebte Sadko frei wie ein Vogel.
So ging es Wochen, Monate, Jahre, und Sadko litt keine Not.
Aber eines Tages kam auch zu Sadko die Sorge. Niemand wollte ihn mehr hören, niemand lud ihn mehr ein. Ganz Nowgorod hatte ihn plötzlich vergessen.
Sadko litt Hunger und Not. Mehr aber noch verdroß ihn, daß seine Gusli verstummt war und niemand seine Lieder mehr hörte, die ihm immer noch aus der Seele quollen. Und so ging Sadko eines Morgens aus der Stadt, er lenkte seine Schritte bis zu den blauen Wassern des Ilmensees. Dort setzte er sich auf einen weißen Stein am Ufer und nahm seine Gusli, die weiße. Und er spielte dem Wasser und spielte den Wellen, die von Ufer zu Ufer wogten und leise sich betteten auf dem weißen Sand rund um den See.
Sadko spielte am Morgen, am Mittag und am Abend, den ganzen Tag ließ er die Lieder erklingen, die aus seinem Herzen kamen. Zum Tanz spielte er auf und spielte auch traurige Lieder, sie strömten aus seiner Gusli und stillten den Schmerz in seinem Herzen.
Als dann am Abend die Sonne schlafen ging in den klaren Wassern des Ilmensees, brach eine Welle aus der Tiefe des Sees hervor, schäumend wie eines Pferdes Mähne. Sie umspülte Sadkos Füße und
bedeckte seine Fersen mit Schaum. Sadko erschrak, fürchtete ein jähes Gewitter und rannte mit seiner Gusli zurück nach Nowgorod.
Am anderen Morgen wartete Sadko wieder vergebens, daß jemand ihn rief, seine Lieder zu spielen.
Nur der Wind kam und wehte den Staub auf, fegte den Weg, den schon lange niemand mehr gegangen, den Weg zu Sadkos Haus.
Traurig ging Sadko aus der Stadt, lenkte seine Schritte bis zu den blauen Wassern des Ilmensees. Dort setzte er sich auf den weißen Stein am Ufer und nahm seine Gusli. Und er spielte erneut dem Wasser und auch den Wellen, die von Ufer zu Ufer wogten und leise sich betteten auf dem weißen Sand rund um den See. Als dann die Sonne am Abend ihr Haupt verhüllte, brach eine Welle aus der Tiefe des Sees
hervor wie eine riesige Hand, die sich zum Himmel erhebt. Sie wälzte sich über das Ufer, umspülte zu halber Höhe den Stein und bedeckte Sadkos Knie mit Schaum. Sadko erschrak bis ins Mark, sprang auf und rannte entsetzt heim nach Nowgorod.
Und es kam der dritte Tag. Wieder wartete Sadko, ob nicht jemand käme und ihn riefe zum Spiel. Aber niemand kam, nur der Wind spielte mit dem Kehrricht vorm Haus.
Traurig ging Sadko aus der Stadt, bis hin zum Ilmensee, der sich bis zum Horizont erstreckte mit seiner klarblauen Flut. Wieder setzte sich Sadko ans Ufer auf den weißen Stein und nahm seine Gusli. Wieder spielte er dem Wasser und den Wellen, die von Ufer zu Ufer wogten und leise sich betteten auf dem weißen Sand rund um den See.
Sadko spielte am Morgen, am Mittag und am Abend, den ganzen Tag spielte er seine Lieder, die ihm aus dem Herzen kamen und mit denen er einst die Menschen erfreut hatte. Traurig waren die Weisen und fröhlich, und sie stillten den Schmerz, den Sadko im Herzen trug.
Am Abend, als die Sonne müde zur Ruhe ging, brach aus der Tiefe des Sees eine Welle hervor gleich einem gläsernen Berg oder wie schweres Gewittergewölk und brandete über den weißen Stein. Bis zum Gürtel reichte sie Sadko und bedeckte seine Schultern mit Schaum. Entsetzen packte ihn, und er glaubte, sein Ende wäre gekommen. Er wollte schreien und sein Heil in der Flucht suchen. Doch die Füße versagten den Dienst, und er blieb reglos sitzen auf dem weißen Stein.
Da teilte sich das Wasser des Sees, als hätte ein Schwert es zerschlagen, und in der Kluft stand der schreckliche Zar Ilmen, der Herr des Sees, selbst und sprach zu Sadko: „Gruß dir, Sadko, du trefflicher Gus-lispieler, und Dank, daß du meinen Gästen aufspieltest, die zum Fest bei mir weilten. Drei Tage währte unser Fest im See, und drei Tage hast du es uns verschönt.
Eingeladen hatte ich dich nicht, doch scheint mir, daß du reichen Lohn verdient hast. Kehr wieder heim, Sadko. Morgen werden meine Boten kommen und dich zu einem Gastmahl laden, wie die Stadt noch keines gesehen hat. Alle Reichen der Stadt werden kommen und sich brüsten. Du, Sadko, sage nichts, tu so, als wärest du stumm. Sie werden dich fragen: ‚Nun, und du, Sadko, hast nichts womit du dich rühmen könntest?’ Dann antworte ihnen: ‚Ich kenne das Geheimnis des Ilmensees. In seiner Tiefe wohnt ein kostbares Fischlein, mit Schuppen aus reinem Gold. Wenn ich nur Lust habe, geh’ ich zum See und fange das Fischlein, und wenn ich will, fange ich auch zwei oder drei und nehme sie mit nach Hause.’ Niemand wird dir glauben. Jeder wird mit dir wetten wollen. Du, geh darauf ein und wette mit ihnen um all ihren Reichtum. Dann nimm das feinste Seidennetz und komm zum Ilmensee. Alle sollen dich begleiten. Rudere mit einem Fischerboot aufs Wasser und wirf das Netz in die Fluten. Dreimal ziehst du es aus dem Wasser. Bei jedem Male will ich dir ein Fischlein aus reinem Gold geben. So wirst du mit einem Schlag der reichste Mann in ganz Rußland. So will ich dich für dein Spielen belohnen.“
Der Seezar hatte zu Ende gesprochen, das Wasser schloß sich wieder über ihm, und der See lag still und ruhig da wie eh und je.
Wie träumend wandelte Sadko nach Hause, wo er den neuen Tag erwartete.
Am Morgen geschah alles genau so, wie es der Seezar vorausgesagt hatte: Sadko wurde zum Fest geladen. Und schließlich fragten sie ihn, und Sadko wettete mit ihnen. Sie zogen alle zum Ilmensee, und Sadko fischte drei goldene Fischlein aus dem See, wie es der Seezar gesagt hatte.
Sadko hatte die Wette gewonnen und war nun reich wie kein anderer. Er ließ sich einen Palast aus weißem Stein bauen, der von fern leuchtete wie die Sonne. Und als der Palast fertig war, führte Sadko eine Braut heim, schön wie die Morgenröte, und feierte Hochzeit.

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