Donnerstag, 27. April 2006
Literatur. Ilya Grigorjewitsch Ehrenburg (1891-1967)
27.01. 1891: Ilya Grigorjewitsch Ehrenburg in Kiew geboren.



1896: Umzug der Familie nach Moskau.
1908: Nach einem Gefänginisaufenthalt wird Ehrenburg wegen ‚revolutionären Gebarens’ vom Schulbesuch ausgeschlossen.
1909: Ehrenburg verläßt Rußland nach Paris.
1910: Erster Gedichtband.
1919: Rückkehr nach Moskau.
1921: Heirat mit Liohbov’ Kozintseva.
1922: Wegen Ausschreitungen während der Oktoberrevolution verläßt er Moskau wieder nach Berlin.
1924: Erster Roman „Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito“, danach „Die Liebe der Jeanne Ney“. Umzug von von Berlin nach Paris. Dort bleibt er die nächsten 20 Jahre vorwiegend.
Ehrenburg schreibt für die russische Zeitung ‚Izvestia’.
1934: Fünf Monate Aufenthalt in Moskau. Er hört von zahlreichen Verhaftungen russischer Literaten und anderen Mitgliedern der Intelligenzia. Teilnahme am Prozeß gegen seinen Freund Nikolai Bukharin, der hingerichtet wird.
Ehrenburg verläßt Rußland mit seiner Frau über Finnland.
1935: Beim Internationalen Schriftstellerkongress in Paris begegnet er Anna Seghers. Deren Anliegen, in die UdSSR zu reisen wird nicht erfüllt.
1940/41: Roman „Der Fall von Paris“.
1941: Endgültige Rückkehr nach Moskau.
1942: Stalin-Preis.
1948: Zweiter Stalin-Preis.
1952: Internationaler Lenin-Friedenspreis.
1950-1967: Vizepräsident des World Peace Council.
1961-1963: Autobiographie „Menschen, Jahre, Leben“.
31.08.1967: Tod in Moskau.

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Literatur. Ossip Mandelštam (1891-1931)
15.1.1891, Ossip Mandelštam in Warschau geboren (gest. 1931).



Mandelštam war Gegner der Bolschewiken. Gleichwohl blieb er nach der Revolution in der SU. Während der stalinistischen Ära 1929 bis 1953 wurde die Veröffentlichung seiner Werke, die sich deutlich gegen die offizielle Kunstdoktrin des sozialistischen Realismus sperrten, unterdrückt. Mandelštam selbst geriet zunehmend in die Isolation.

1934 wurde er wegen einer kritischen Schrift über Stalin aus Moskau verbannt. Kurz nach der Rückkehr 1937 wurde er wiederum verhaftet und zu fünf Jahren Zwangsarbeit in einem sibirischen Arbeitslager in der Nähe von Vladivostok verurteilt. Dort starb er am 27. Dezember 1938.
1956: Rehabilitation. Für sowjetische Intellektuellen- und Künstlerkreise wurde er eine Leitfigur.

Werke:
Das Frühwerk ist deutlich vom russischen und französischen Symbolismus bestimmt. Bald neigt er dem akmeistischen Stil zu.
Er griff immer wieder auf Motive der europäischen Literatur zurück. Kennzeichnend für seinen Stil ist das etymologische Spiel mit Wörtern und eine mythopoetische, oft undurchschaubare Bildsprache.

Mandelštam publizierte zwei Gedichtbände:
"Kamen" (1913, "Der Stein"), in denen Mandelstams Abschied vom Symbolismus deutlich wird; in "Trista" (1922, "Dreihundert") wendet er sich einer neo-klassizistischen Richtung zu.
Zudem arbeitete er als Übersetzer, schrieb mehrere Essays und Erzählungen, etwa "Šum vremeni" (1925, "Das Rauschen der Zeit"; 1928 erweitert: "Egipetskaia marka", "Die ägyptische Briefmarke"), "O poézii" (1928, "Über die Poesie"), "Putešestvie v Armeniú" (1933, "Die Reise nach Armenien") und "Razgovor o Dante" ("Ein Gespräch über Dante"; entstanden 1933, hg. 1967).
Anfang der siebziger Jahre veröffentlichte seine Witwe, die Schriftstellerin Nadežda Jakovlevna Mandelštam (1899-1980), zwei Erinnerungsbände.

Mandelštam gilt heute als einer der größten russischen Dichter des 20. Jahrhunderts.

Lit.: R. Dutli, Ossip Mandelstam. „Als riefe man mich bei meinem Namen“. Ein Essay über Dichtung und Kultur, Frankfurt a.M. 1990

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Literatur. Majakowskis Lenin-Versepos
W. Majakowski
Zwiesprache mit dem Genossen Lenin


Der Haufen der Arbeit,
das Kommen und gehen
wich vor dem Dämmer,
der Alltag schwand.
Im Zimmer blieben:
ich
und Lenin -
er als Bild
an der weissen Wand.
Mit offenem Mund
in packender Rede,
die Borsten
des Schnurrbarts
steif und wirr,
die Falten
der Stirn:
ein Gedankengehege
für Riesengedanken
einer Riesenstirn.
Tausende
schreiten
an ihm vorbei...
Ein Wald aus Fahnen...
ein Feld aus Händen...
Ich stehe
strahlend vor Freude dabei -
und möchte
hingehn,
grüssen
und melden
“Genosse Lenin,
ich melde Ihnen
freiwillig,
nur aus Liebe zur Sache,
Genosse Lenin,
wir bauen und dienen
und werden
die höllische Arbeit machen.
Wir kleiden die Armen,
klären sie auf
und fördern
mehr Kohle
in kürzerer Frist.
Doch freilich
zugleich
bauen wir auch
auch
eine Menge
Blödsinn und Mist.
Man hat das ewige Streiten
satt.
Es blüht
ohne Sie
das Schmarotzertum.
Es tummelt sich
sehr viel
verschiedenes Pack
in unserem Land
und rund
herum.
Wer kennt
die Zahl
wer nennt die Namen,
ein ganzer Zug
von Typen
kleckert.
Kulaken, Bürokraten, Blinde und Lahme,
Sektierer,
Säufer
und Speichellecker -
sie stelzen
wichtig
und aufgeblasen,
mit Füllern gespickt,
an Abzeichen reich.
Wir werden sie
alle
natürlich fassen,
doch alle
zu fassen
ist gar nicht leicht.
Genosse Lenin,
im Rauch der Betriebe
auf Feldern,
bedeckt
mit Schnee,
mit Getreide,
denken,
atmen,
kämpfen
und leben
wir
in Ihrem
Namen
und Geiste!“
Der Haufen Arbeit,
das Kommen und gehen
wich vor dem Dämmer,
der Alltag schwand.
Im Zimmer blieben:
ich
und Lenin -
er als Bild
an der weissen Wand

(1929)
www.sozialistische-klassiker.org

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Literatur. 1889: Wladimir Majakowskij geboren
Wladimir Majakowskij (gest. 1930)



Majakowskij war Mitbegründer und Hauptvertreter des russischen Futurismus. Nach der Russischen Revolution, die er mit politischer Lyrik begrüßte, unterstützte er die junge Sowjetunion literarisch. Später beging er aus Enttäuschung über die Verhältnisse Selbstmord.

b>1908 Mitglied der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Bolschewiki).
Bis 1909: Stroganowsches kunstgewerbliches Technikum.
1911: Studium Kunstschule in Moskau. Freundschaft mit D. Burljuk.
1912: Erste Gedichtpublikationen im Almanach der Futuristen „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“.
1913: Erster Gedichtband Ich ("Ja"). Aufführung des Dramas Wladimir Majakowski, 1914 veröffentlicht. Beginn journalistischer Tätigkeit und öffentlicher Rezitationen.
1915: Freundschaft mit Lilja und Ossip Brik. Versepos Wolke in Hosen (Oblako v stanach). Übersiedlung nach Petrograd. Militärdienst als technischer Zeichner bis 1917.
1916: Versepos Wirbelsäulenflöte (Flejta-pozvonocnik). Gedichtband Einfaches wie Gebrüll (Prostoe kak mycanie).
1917: Versepos Krieg und Welt (Vojna i mir)
1918: Versepos Ein Mensch (Celovek). Beginn der Mitarbeit im Volkskommissariat für Bildungswesen; Uraufführung des Dramas Mysterium buffo (Misterija-buff) in Petrograd, Regie W. Meyerhold, Neufassung 1921.
Sammelband Alles, was Wladimir Majakowski verfaßt hat (vse socinennoe Vladimirom Majakovskim).
Umzug nach Moskau.
1921: Anonyme Publikation des Versepos 15000000 (V).
1922: Gründung des futuristischen Verlages MAF (Moskovskaja associacija futuristov). Versepos: Ich liebe (Ljublju).
Erste Auslandsreise (Riga, Berlin, Paris), bis 1929 regelmäßig Reisen nach Deutschland, Frankreich, Tschechoslowakei. Gründung der literarischen Gruppe LEF (Levyj front iskusstva = Linke Front der Kunst). 1923-25: Herausgabe der gleichnamigen Zeitschrift,
1927-28 unter dem Titel Nowy LEF. Zweibändige Werkausgabe: 13 Jahre Arbeit (13 let raboty).
Veröffentlichung mehrerer Sammelbände in Berlin; Versepos Das bewußte Thema.
1924: Sammelband Sachen dieses Jahres (Vesci etogo goda)
Berlin. Reisen nach Berlin und Paris.
1925: Versepos Wladimir Iljitsch Lenin (Vladimir Il'ic Lenin).
Reise nach Mexiko. Versepos Gut und schön (Choroso).
Beginn einer zehnbändigen Werkausgabe, abgeschlossen 1933.
1928: Austritt aus LEF.
1929: Uraufführung Drama Die Wanze (Klop), Regie W. Meyerhold. Versuch einer Wiederbelebung von LEF durch REF (Revoljucionnyj front – Revolutionäre Front).
Arbeit am Versepos Mit aller Stimmkraft (Vo ves’ golos.)
1930: Uraufführung des Dramas Das Schwitzbad (Banja) in Leningrad.
14.4. Freitod in Moskau

1934: Gesamtausgabe in 13 Bänden durch L. Brik, abgeschlossen 1938.

Majakowski wurde 1935 von Stalin als „der beste und begabteste Lyriker unserer Sowjetepoche“ bezeichnet. Erstaunlich genug, hat doch sein Werk mit der sowjetischen Literaturdoktrin des Sozialistischen Realismus nur gemein, daß manches im Dienste der Kommunistischen Partei steht. Anderes entzog sich radikal dem Verständnis der Volksmassen, für die doch die Schriftsteller nach Stalin „Ingenieure der Seele“ sein sollten: Seine Theaterstücke Die Wanze, 1929, Das Schwitzbad, 1930, waren wegen ihrer Kritik an Parteifunktionären über Jahrzehnte verboten.
Allein der Umstand, daß Majakowski schon früh mit der Sowjetmacht sympathisierte, brachte ihm Stalins Ehrung ein. Gewiß, Majakowski begeisterte sich für die Idee des klassenlosen Staates. Kurzfristig glaubte er auch an die Realisierbarkeit der kommunistischen Ideale. Dem Bolschewismus stand er mit seinem Atheismus, seinem Haß auf die Bourgeoisie, die Tradition und Geschichte und mit seinem Glauben an das Führerprinzip nahe. Aber seine Vorstellungen von Kunst waren grundlegend andere. Majakowski wollte etwas Neues, Revolutionäres, was der Kulturdoktrin der Bolschewiki allerdings völlig fremd war. Denn sie zentralisierten, vereinheitlichten das Kulturleben. Majakowskis Gegner, die Funktionäre der Russischen Assoziation proletarischer Schriftsteller (RAPP) verweigerten ihm sogar die Aufnahme in ihren Verband.

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Literatur. 1889: Anna Andrejewna Achmatowa (eigentlich: Gorenko) geboren
23. 6. 1889: Anna Andrejewna Achmatowa (eigentlich: Gorenko) bei Odessa geboren (gest. 1966).


Mit Ossip Mandelstam gehörte Anna Achmatowa, die u.a. von Verlaine und Majakowski beeinflußt war, zu den Begründern und führenden Vertretern des Akmeismus.

Im sogenannten „Silbernen Zeitalter“ der russischen Poesie vor der Oktoberrevolution erlangte sie mit ihrer Liebeslyrik erste größere Beachtung. Nach der Revolution wurde ihr erster Mann, der Dichter Nikolaj Gumiljow, mit dem sie von 1910 bis 1918 verheiratet war, 1921 als Staatsfeind erschossen.

Ihr Sohn Lew Gumiljow hatte vielfältige Repressionen zu erdulden und wurde mehrfach eingesperrt. Seit Gründung der UdSSR 1922 durften Achmatowas Gedichte nicht mehr gedruckt werden. Ins Exil wollte sie nicht gehen.
Erst zwanzig Jahren später erschien ein Auswahlband von Gedichten (1940: „Aus sechs Büchern“). Ihr Gedichtszyklus „Requiem“ (1935-1961) wurde 1987 in der Sowjetunion veröffentlicht.
In „Requiem“ setzte die Dichterin allen russischen Müttern ein Denkmal, die um das Leben ihrer Söhne in den Straflagern fürchteten. Andrej Schdanow, seit 1941 verantwortlich für die Konformität von Kunst und Wissenschaft im Sinne der kommunistischen Partei zu agieren (Schdanowschtschina), diskriminierte sie 1946 als „halb Nonne, halb Dirne“ und als „bourgeois“. Sie wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Erst ab 1954 wurde die Lyrikerin wieder wahrgenommen, aber doch eher nur geduldet. Sie konnte nach Italien und Großbritannien reisen, um späte Ehrungen entgegenzunehmen.

Viele Gedichte Achmatowas sind von religiösen Einstellungen geprägt. Sie kreisen um „die Liebe der Frau: die freudige, die leidende, die selbstlose, die verzweifelte“ (Wolfgang Kasack).

1912 erschien ihr erster Gedichtband „Der Abend“ ("Vecer") in kleiner Auflage. Er wurde ihr erster Erfolg. In den Gedichten geht es um Liebe und Trennung, Abschied und Schmerz, sie sind von Melancholie durchdrungen, die hin und wieder von Momenten der Fröhlichkeit erhellt wird. Sehr intensiv bestimmt die russische Geschichte Leben und Schreiben Achmatowas.
In späteren Werken wie in „Anno domini MXMXXII“ wandte sie sich patriotischen Themen zu, ohne damit ihre Kritiker beschwichtigen zu können. Diese hielten die Lyrik der Akmeisten grundsätzlich für zu privat, individualistisch und asozial.
1965 war Achmatowa für den Literaturnobelpreis nominiert, 1964 wurde sie Vorsitzende des sowjetischen Schriftstellerverbandes.
Achmatowa wurde erst spät rehabilitiert: Ihr Gedichtzyklus „Rekviem“, der den stalinistischen Terror beklagt, wurde in der Sowjetunion erst 1987 veröffentlicht. In den letzten zehn Jahren ihres Lebens schrieb Achmatowa mehrere Gedichtbände, so den Gedichtzyklus “Poema bez geroja“ (1963, "Poem ohne Held").

Achmatowa starb am 5. März 1966 in Moskau.

Lit.:
Jelena Kusmina: Anna Achmatowa. Ein Leben im Unbehausten. Biographie. Berlin 1993

Herbstliches Lied

Wieder kommst du mir, o Herbst, mein Freund! (Annenski)

Mag wer da will nach dem Süden ausfliegen
Und sich dort niederlassen zur Kur -
Dieses Jahr will ich dem Herbst mich fügen,
Der im Norden zieht seine Spur.

Mit mir trag ich ein Bild, das mir teuer:
Letzte Begegnung, die schnitt in mein Herz.
Kühl und rein, schwerelos ist das Feuer
Meines Sieges über den Schmerz.

Übersetzt von Hans Baumann
Russische Lyrik 1185-1963. Ausgewählt und übersetzt von H. Baumann, WBG Darmstadt 1963

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Literatur. Velimir Chlebnikov (1885-1922)
1885: Velimir Chlebnikov in der Nähe Astrachans (Tundutovo) geboren (gest. 1922)



Chlebnikov schrieb über sich selbst:

„Ich wurde am 28. Oktober 1885 im Lager mongolischer Nomaden geboren. In meinen Adern fließt armenisches Blut und das Blut der Zaporoger. Trat in eheliche Bande mit dem Tod und bin auf diese Weise verheiratet. Bin mit der Forderung hervorgetreten, die russische Sprache vom Kehrricht der Fremdwörter zu reinigen, gab den Menschen das Werkzeug, die Zukunft vorauszusehen, durch die Gesetze des Alltags des Volks habe ich ein Fenster zu den Sternen geschlagen. 1913 wurde ich zum großen Genie der Gegenwart ernannt, welchen Ruf ich bis heute genieße. War nicht beim Militärdienst“.

Chlebnikov, der Mathematik, Physik und Slawische Philologie in Kazan’ studierte, wollte als „Wissenschaftsprophet“ naturwissenschaftliche Probleme dichterisch darstellen.
Mit der Zuwendung zum Futurismus beginnt er seine komplexen Sprachexperimente.
Die zweite Phase seines Werks wird von der Mathematisierung seines Weltbildes bestimmt. In ihm verschmelzen Archaik und Utopie, die den Zauber des Ursprungs mit komplizierter Zahlenmystik verbinden.

Chlebnikov stellte intensive Spekulationen über das Wesen der Sprache und der Zahlen an und überführte sie in seine poetische Praxis. In dem frühen Gedicht Zaklinanie smechom (Beschwörung durch Lachen, 1910) entwickelte er aus dem Etymon "smech" ein breites Spektrum von Neologismen: „O, rassmejtes’, smechaci!/ O, zasmejtes’, smechaci“ („Ihr Lacherer, schlagt die Lache an!/ Ihr Lacherer, schlagt an die Lacherei!“ Üs. H.M. Enzensberger). Dies sind zwar formal richtige Worte, sie haben aber keine normalsprachliche Bedeutung. Diese würden sie erst erhalten, wenn die "Zaum"-Sprache als universales Kommunikationsmittel in einer neuen Gesellschaft durchgesetzt würde.
In der auf ägyptische Motive und Prätexte basierenden Erzählung "Ka" (1916) werden Mathematik und Mystik, Astronomie und Astrologie verknüpft. Solche Schicksalsberechnungen legte Chlebnikov in den historisch-mathematischen Schriften "Doski sud’by" (Die Tafeln des Schicksals, 1922/23) vor. Seine Sternensprache (zvezdnyj jazyk) zielte auf Verbindungen zwischen Menschenschicksal, Gestirnen und den Zahlen im Sinne einer Harmonia mundi. Das Metapoem (sverchpovest’) Zangezi (1922) verarbeitete altslavische, altorientalische und zentralasiatische Mythen. Es bekräftigte nochmals Chlebnikovs Entwurf von Autorschaft, der Attribute des Priesters, Mönchs und Zauberers umfaßte.
Im Manifest Slovo kak takovoe (Das Wort als solches, 1913) forderte er mit Aleksej Krucenych das Recht des Dichters auf sprachschöpferische Freiheit. Er entwarf eine auf Neologismen beruhende „transmentale Sprache“ (zaumnyj jazyk). Fremdwörter aus westlichen Sprachen russifiziert er, so übersetzt er z.B. Futurismus als "budetljanstvo".

Chlebnikov war auch ein engagierter, scharf beobachtender Zeitgenosse, der einen allerdings befremdet-verfremdenden Blick auf seine Gegenwart richtete: Im Gedicht Zuravl’ (Der Kranich, 1909) rotten sich Maschinen, Fabrikschlote und Eisenbahnwagen gegen den Menschen zusammen.
Gedichte der der Spätphase wie Noc’v okope (Die Nacht im Schützengraben, 1920) oder Nocnoj obysk (Nächtliche Haussuchung, 1921) nehmen ausdrücklich auf Figuren, Schauplätze und Ereignisse der Revolutions- und Bürgerkriegsepoche Bezug. Er beschwört in ihnen das uralte „Gesetz der Vergeltung“, daß Gewalt Gegengewalt auslöse.

Mit einer Einheit der Roten Armee verbrachte Chlebnikov die Zeit von April bis Juni 1921 in Persien. Truba Gul’-mully (Gulmullahs Trompete, 1921) feiert die Rückkehr des „russischen Propheten Chlebnikov“ in seine östliche Heimat.

Chlebnikov durchwanderte das Land in Lumpen, ohne Geld. Seine Manuskripte bewahrte er in einem zerschlissenen Kopfkissenbezug auf.

Mit dem Futurismus hatte er nach einem Auftritt Marinettis in Rußland 1916 gebrochen.
Seit 1920 arbeitete er als Nachtwächter in Pjatigorsk, wo er sein poetologisches Vermächtnis „Sangesi“ verfaßte. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, die herkömmlichen Gattungsgrenzen zu überwinden.

1922 starb Chlebnikov. Majakowskij hielt die Grabrede. Er bezeichnete Chlebnikow als „einen unserer dichterischen Lehrmeister und einen großartigen und ehrenhaften Ritter in unserem poetischen Kampf“.

Beschwörung durch Lachen

Ihr Lacherer, schlagt die Lache an! / Ihr Lacherer, schlagt an die Lacherei! / Die ihr vor Lachen lacht und lachhaftig lachen macht, / schlagt lacherlich eure Lache auf! / Lachen verlachender Lachmacher! Ungeschlachtes Gelachter! / Lachen lacherlicher Lachler, lach und zerlach dich! / Gelach und Gelacher, / lach aus, lach ein, Lachelei, Lachelau, / Lacherich, Lacherach. / Ihr Lacherer, schlagt die Lache an! / Ihr Lacherer, schlagt an die Lacherei! 1910 (Er)


Nach: Russische Literaturgeschichte, hg. v. K. Städtke, Stuttgart/Weimar 2002, S. 267f.; R. Lauer, Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart, München 2000, S. 502 ff.

Bild:www.presidentoftheglobe.nl/images/chlebnikov.jpg

Das Gedicht in: Russische Lyrik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Russisch-Deutsch, hg. v. K. Borowsky u. L. Müller, 5., erw. Aufl. Stuttgart 1998, S. 327

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Literatur. Iwan Bunin.
Iwan Bunin (10./22.10.1870, gest. 1953)



Studium in Moskau.
1889: Redakteur der Zeitung Bote von Orjol in Charkow, später Bibliothekar in Poltawa. Erste schriftstellerische Versuche.
Ab 1900: Reisen nach Griechenland, in die Türkei, nach Palästina, Ägypten und Indien.
1903: Puschkin-Preis der russischen Akademie für seine Übersetzungen Henry Wadsworth Longfellows, Lord Byrons und Lord Alfred Tennysons.
1909: Mitglied der Russischen Akademie.
Bunin gehörte zur Gruppe um Maxim Gorki. Anton Tschechow und Iwan Turgenjew waren sein Freunde.
Nach Ausbruch der Revolution lebte er zwei Jahre im Süden Rußlands.
1920 Flucht nach Frankreich.
Bunin starb am 8. November 1953 als bedeutendster Schriftsteller der Russischen Emigranten in Paris.

Nobelpreis 1933

Werke:
1887: Erste Gedichtveröffentlichungen in der Zeitschrift „Rodina“
1891: Erste Gedichtsammlung im „Orlowski westnik“
1897: Prosa „Ans Ende der Welt“
1898: Gedichte „Unter freiem Himmel“
1901: Gedichte „Wenn das Laub fällt“
1910: Erzählung „Das Dorf“
1912: Prosaband „Ssuchodol“
1916: Prosaband „Der Herr aus San Franzisko“
1925: Erzählung „Mitjas Liebe“
1930/1939: Roman „Im Anbruch des Tages“ und „Erste Leidenschaft“
1935: Veröffentlichung des Tagebuchs von 1918/1919: „Die verfluchten Tage“
1943: Prosa „Dunkle Alleen“
1955: Unabgeschlossenes Buch über Tschechow

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Literatur. Alexander Blok (1880-1921)
28.11., Alexander Alexandrowitsch Blok in Sankt Petersburg geboren (gest. 7. August 1921 in Petrograd).



Blok gehört zur russischen Moderne. Er war neben Andrej Bely wichtigster Vertreter der so genannten zweiten Generation der Symbolisten.

1906: Abschluß des Studiums der Philologie und Rechtswissenschaften.
1902: Publikation seines ersten Gedichtzyklus’ in der Zeitschrift Neuer Weg. Deutlich wird darin noch der Einfluß der Romantischen wie der Philosophie Solowjows (Sophiologie).
In seinem zweiten Gedichtband (1904-08) trat die mystische Einstellung in den Hintergrund. Sie wurde von besorgten und patriotisch-sozialkritischen Tönen abgelöst (v.a. hinsichtlich des russ.-jap. Krieges). Dämonische Elemente wie rote und schwarze Kobolde, Wahrsagerinnen, schwarze Mönche u.a. treten auf, die mit Bloks Großstadtvorstellungen in einer dämonischen Welt verbunden sind.
Sein 1909 bis 1916 entstandener Gedichtzyklus "Schreckliche Welt" spiegelt die inneren Konflikte zwischen Jenseitsillusionen, russischer Realität und privaten Problemen.
1909: Italienreise (Gedichte: Ital’janskie stichi)
1918: Gedichte Zwölf und Skythen.

Werke
Ante Lucem, Gedichte, 1898-1900
Verse von der schönen Dame, Gedichtzyklus, 1904
Kreuzwege, Gedichte, 1902-1904
Blasen der Erde, Gedichte, 1904-1908
Die Schaubude, Schauspiel, 1906
Die Unbekannte, lyrisches Drama, 1907
Schneemaske, Gedichtzylus, 1907
Faina, Gedichte, 1906-1908
Welt des Schreckens, Gedichte, 1909-1916
Vergeltung, Gedichte, 1908-1913
Jamben, Gedichte, 1907-1914
Italienische Gedichte, 1909
Harfen und Geigen, Gedichte, 1908-1916
Rose und Kreuz, Drama, 1913
Carmen, Gedichte, 1914
Heimat, Gedichte, 1907-1916
Vergeltung, Poem
Die Zwölf, Poem, 1918
Die Skythen, Poem, 1918

Verse von der Schönen Dame (1)

I. Petersburg. Frühling 1901

Ich ging hinaus. Ganz langsam tagte
Es trug mir der Wind aus der Weite
Abendlich legten sich Schatten
Die Seele schweigt. Dieselben Sterne
Heute, voll Glückseligkeit
Ich fand den Sinn deinen Bestrebens
Du steigst in die purpurne Dämmerung
Mein Prophezeihen wurde wahr
Meiner Mutter
Lachen klingt, und jemand flüstert
Mondenrot in weißer Nacht

Auswahl von Gedichten unter:
http://home.arcor.de/berick/illeguan/blok1.htm

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Donnerstag, 27. April 2006
Literatur. Nikolaj Karamsin
Karamsin ist Hauptvertreter des russischen Sentimentalismus; Verfasser der Geschichte des russischen Staates (1818-1826).

N. Karamsin

Karamsin schrieb v.a. Erzählungen ("Bednaja Liza", 1792). Bekannt ist auch seine Reisebeschreibung "Pis’ma russkogo putešestvennika" (1799-1801), in der er Rußland mit europäischem Gedankengut bekannt machte. Er wollte die russische Literatursprache endgültig von kirchenslawischen Elementen befreien und wurde zum Wortführer der so genannten Neuerer.
1789: Reise nach Deutschland, Schweiz, Frankreich und England bis 1790.

"Karamsins Pis’ma russkogo putešestvennika" (1799-1801, "Briefe eines russischen Reisenden") geben seine Eindrücke von einer Reise durch Westeuropa wieder.

1791: Karamsin gibt die Literaturzeitschrift Moskowski shurnal heraus.
1802-1803: Redakteur der Zeitschrift Westnik Jewropy.
1803: Ernennung zum Reichshistoriographen. Beginn der Arbeit an der "Istorija gosudarstva Rossijskogo" = "Geschichte des russischen Staates".
1818: Die ersten acht Bände der Geschichte erscheinen.

Karamsins Besuch bei Immanuel Kant:

„Gestern nachmittag war ich bei dem berühmten Kant, einem scharfsinnigen und feinen Metaphysiker, der Malebranche und Hume, Leibniz und Bonnet stürzte, Kant, den einst der jüdische Sokrates, der verstorbene Mendelssohn, den alles zermalmenden Kant nannte. Ich hatte keinen Brief an ihn; aber Kühnheit gewinnt Städte, und mir öffnete sie die Türe des Philosophen. Ein kleiner hagerer Greis, von einer außerordentlichen Zartheit und Blässe, empfing mich. Ich sagte zu ihm: „Ich bin ein russischer Edelmann, der deswegen reiset, um mit einigen berühmten Gelehrten bekannt zu werden – und darum komm ich zu Kant.“ Er nötigte mich sogleich zum Sitzen und sagte: „Meine Schriften können nicht jedermann gefallen. Nur wenige lieben die tiefen metaphysischen Untersuchungen, mit welchen ich mich beschäftigt habe.“ Wir sprachen erst eine halbe Stunde über verschiedene Gegenstände: von Reisen, von China, von Entdeckungen neuer Länder etc. Ich mußte dabei über seine geographischen und historischen Kenntnisse staunen, die allein hinreichend schienen, das ganze Magazin eines menschlichen Gedächtnisses zu füllen, und doch ist dies bei ihm nur Nebensache. Danach brachte ich das Gespräch, nicht ohne Sprung, auf die moralische Natur des Menschen, und folgendes hab ich von seinem Urteile darüber gemerkt:
„Unsere Bestimmung ist Tätigkeit. Der Mensch ist niemals ganz mit dem zufrieden, was er besitzt, und strebt immer nach etwas anderm. Der Tod trifft uns noch auf dem Wege nach dem Ziele unserer Wünsche. Man gebe dem Menschen alles, wonach er sich sehnt, und in demselben Augenblicke, da er es erlangt, wird er empfinden, daß dieses Alles nicht alles sei. Da wir nun hier kein Ziel und Ende unseres Strebens sehen, so nehmen wir eine Zukunft an, wo sich der Knoten lösen muß; und dieser Gedanke ist dem Menschen um so angenehmer, je weniger Verhältnis hienieden zwischen Freude und Schmerz, zwischen Genüssen und Entbehrungen stattfindet. Ich für meine Person erheitere mich damit, daß ich schon über sechzig Jahre alt bin und daß das Ende meines Lebens nicht mehr fern ist, wo ich in ein besseres zu kommen hoffe. Wenn ich mich jetzt an die Freuden erinnere, die ich während meines Lebens genossen habe, so empfinde ich kein Vergnügen; denk ich aber an die Gelegenheiten, wo ich nach dem Moralgesetz handelte, das in mein Herz geschrieben ist, so fühl ich die reinste Freude. Ich nenne es das Moralgesetz, andere das Gewissen, die Empfindung von Recht und Unrecht – man nenne es, wie man will; aber es ist. Ich habe gelogen; kein Mensch weiß es; und ich schäme mich doch. – Freilich ist die Wahrscheinlichkeit des künftigen Lebens noch immer keine Gewißheit; aber wenn man alles zusammennimmt, so gebietet die Vernunft, daran zu glauben. Was würde auch aus uns werden, wenn wir es sozusagen mit den Augen sähen? Würden wir dann nicht vielleicht durch den Reiz desselben von dem rechten Gebrauche des Gegenwärtigen abgezogen werden? Reden wir aber von Bestimmung, von einem zukünftigen Leben, so setzen wir dadurch schon das Dasein eines ewigen und schöpferischen Verstandes voraus, der alles zu irgend etwas, und zwar zu etwas Gutem schuf. Was? Wie? – Hier muß auch der erste Weise seine Unwissenheit bekennen. Die Vernunft löscht hier ihre Fackel aus, und wir bleiben im Dunkeln. Nur die Einbildungskraft kann in diesem Dunkel herumirren und Phantome schaffen.“ Ehrwürdiger Mann! Verzeihe, wenn ich deine Gedanken in diesen Zeilen entstellt habe.
Er kennt Lavater und hat mit ihm korrespondiert. „Lavater“, sagte er, „ist sehr liebenswürdig, in Rücksicht seines guten Herzens; aber seine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft macht, daß er sich durch Phantome blenden läßt, an Magnetismus und dergleichen glaubt.“ Ich erwähnte seine Feinde. „Sie werden sie kennenlernen“, sagte Kant, „und Sie werden finden, daß sie allzumal gute Menschen sind.“
Er schrieb mir die Titel von zweien seiner Schriften auf, die ich noch nicht gelesen habe: „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Metaphysik der Sitten“ – und dieses Zettelchen werd ich verwahren wie ein heiliges Andenken.
Indem er meinen Namen in sein Taschenbuch schrieb, wünschte er, daß sich endlich einmal alle meine Zweifel lösen möchten. Darauf schieden wir.
Das, meine Freunde, ist eine kurze Beschreibung einer für mich äußerst interessanten Unterredung, die über drei Stunden dauerte. – Kant spricht geschwind, sehr leise und unverständlich; ich mußte alle meine Gehörnerven anstrengen, um zu verstehen, was er sagte. Er bewohnt ein kleines unansehnliches Haus. Überhaupt ist alles bei ihm einfach, ausgenommen seine Metaphysik.“

Lit.:
N.M. Karamsin, Briefe eines russischen Reisenden, 2. Aufl. Berlin 1981, S. 44-47.

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Pugačev. Puschkins "Die Hauptmannstochter"
In Puschkins kurzem Roman "Die Hauptmannstochter" taucht Pugatschow als Figur auf. Er rettet den jungen Pjotr Andreič, der zu seiner Garnison unterwegs ist, aus einer lebensbedrohlichen Lage. Im Laufe der Romanhandlung begegnen sie sich mehrfach.

Pugatschew in einem Käfig vor seiner Hinrichtung.

Pugatschow auf dem Weg zur Hinrichtung.

„Ich stieg aus der Kibitka. Der Buran dauerte an, doch mit minderer Gewalt. Es war so dunkel, daß man die Hand nicht vor Augen sah. Der Wirt empfing uns am Tor, die Laterne unter dem Rocksaum, und führte mich in eine Stube, eng, aber recht reinlich; ein Kienspan erleuchtete sie. An der Wand hing eine Flinte und eine hohe Kosakenmütze. Der Wirt, von Geburt ein Jaik-Kosak, war anscheinend ein Bauer um die sechzig, aber noch frisch und rüstig. Saveljič brachte die Truhe herein, verlangte nach Feuer, um Tee zu kochen, der mir noch nie so nötig erschienen war. Der Wirt ging, sich darum zu kümmern.
Wo ist denn unser Führer? fragte ich Saveljič.
„Hier, Euer Wohlgeboren,“ - antwortete mir eine Stimme von oben. Ich blickte zu einer Balustrade hinauf und sah den Bart und zwei blitzende Augen. - Na, Freund, bist du nicht durchgefroren? – „Wie soll einer nicht frieren in einem dünnen Armjak? Ich hatte einen Schafspelz, aber den, warum es verschweigen? hab ich gestern beim Schankwirt versetzt: es war nicht so kalt.“ In diesem Augenblick kam der Wirt mit dem siedenden Samovar herein; ich bot unserem Führer eine Tasse Tee an; der Bauer kam herabgeklettert. Sein Äußeres schien mir bemerkenswert: er war um die vierzig Jahre alt, von mittlerem Wuchs, sehnig und breitschultrig. In seinem Bart zeigten sich erste graue Haare; die lebhaften großen Augen bewegten sich flink in alle Richtungen. Sein Gesichtsausdruck war recht angenehm, aber spitzbübisch. Das Haar war rundgeschoren, am Körper trug er einen zerschlissenen Armjak und tatarische Pluderhosen. Ich reichte ihm eine Tasse Tee; er nahm einen Schluck und runzelte die Stirn. „Euer Wohlgeboren, tun Sie mir die Gnade, - befehlen Sie mir ein Glas Schnaps zu bringen; Tee ist kein Getränk für uns Kosaken.“ Mit Freuden erfüllte ich seinen Wunsch. Der Wirt holte vom Geschirrbrett die Vierkantflasche und ein Glas, trat auf ihn zu, blickte ihm ins Gesicht und sagte: „Aha, bist du wieder im Lande! Von woher bringt dich Gott?“ - Mein Führer zwinkerte bedeutsam und antwortete mit einem Sprichwort: „Ich flog in den Garten, pickte am Hanf; die Bäuerin warf Steine - traf aber nicht. Und was machen die euren?“
Was sollen unsere schon machen! - antwortete der Wirt, an das Gespräch in rätselvollen Bildern anknüpfend. Man hat zur Messe geläutet, aber des Popen Weib will nicht: ist der Pope aus dem Haus, tanzen auf dem Friedhof die Teufel. – „Sei still, Onkel“ - erwiderte mein Landstreicher, „gibts Regen, gibts auch Pilze; und gibt es Pilze, findt sich auch ein Korb. Doch heute (hier zwinkerte er wieder) versteck die Axt hinterm Rücken: der Förster geht um. Euer Wohlgeboren! Auf Eure Gesundheit!“ - Mit diesen Worten nahm er das Glas, bekreuzigte sich und trank es in einem Zuge leer. Danach verbeugte er sich, und kehrte hinter die Balustrade zurück.
Ich konnte damals nichts von diesem Gaunergespräch verstehen; erst später erriet ich, daß es mit dem Jaik-Heer zu tun hatte, das damals erst befriedet worden war, nach dem Aufstand von 1772. Saveljič hörte es mit der Miene großen Mißfallens. Er schaute voller Argwohn mal nach dem Wirt, mal nach dem Führer. Die Herberge oder, wie sie hier hieß, die Einkehr, befand sich abgelegen, fernab von jeder Siedlung, und glich wohl einer Räuberhöhle. Aber es war nichts zu machen. An eine Weiterreise war nicht zu denken. Saveljičs Beunruhigung belustigte mich sehr. Unterdessen bereitete ich mir ein Lager und legte mich auf die Bank. Saveljič beschloß, sich auf dem Ofen einzurichten; der Wirt legte sich auf den Fußboden. Bald schnarchte die ganze Hütte, und ich schlief ein wie erschlagen.
Recht spät am Morgen erwacht, sah ich, daß der Sturm sich gelegt hatte. Sie Sonne schien. Der Schnee lag als gleißende Decke auf der unübersehbaren Steppe. Die Pferde waren eingespannt. Ich bezahlte den Wirt, der eine so maßvolle Summe verlangte, daß sogar Saveljič nicht mit ihm zu streiten und, wie gewöhnlich, zu feilschen anfing, und der gestrige Argwohn ganz aus seinem Kopf gewichen war. Ich rief den Führer, dankte ihm für die erwiesene Hilfe und ließ ihm von Saveljič einen halben Rubel Trinkgeld geben. Saveljič runzelte die Stirn. „Einen halben Rubel!“ - sagte er, - „wofür denn? Dafür, daß du ihn in die Herberge mitgenommen hast? Wie du willst, Herr: wir haben keinen halben Rubel zu viel. Gib jedem ein Trinkgeld, und du hast bald selber nichts mehr zu essen.“ Ich konnte mit Saveljič nicht streiten. Das Geld befand sich, meinem Versprechen gemäß, in seiner Verfügungsgewalt. Dennoch war es mir ärgerlich, einem Menschen nicht danken zu können, der mich, wenn nicht aus einer Not, so doch aus einer sehr unangenehmen Lage befreit hatte. Gut - sagte ich gelassen; - wenn du ihm keinen halben Rubel geben willst, dann hol ihm etwas von meinen Kleidern. Er ist zu leicht gekleidet. Gib ihm meinen Hasenpelz.
„Ich bitte dich, Väterchen Pjotr Andreič!“ - sagte Saveljič. – „Was macht er schon mit deinem Hasenpelz? Er versäuft ihn, der Hund, in der erstbesten Schenke.“
Das, Alter, wäre nicht mehr deine Sorge, - sagte mein Landstreicher, - ob ich ihn versaufe oder nicht. Seine Wohlgeboren nimmt den Hasenpelz von seiner Schulter und schenkt ihn mir: das ist der Wille deines Herrn, und du als Knecht hast nicht zu streiten, sondern auf ihn zu hören. „Räuber, hast du keine Gottesfurcht!“ - antwortete Saveljič mit zorniger Stimme. – „Du siehst, das Kind hat noch keinen Verstand, und du willst es in seiner Einfalt ausplündern. Was willst du mit dem Pelz eines Herrn? Du kriegst ihn ja nicht mal über deine verfluchten Schultern.“ - Bitte, laß die klugen Reden, - sagte ich zu meinem Erzieher; - bring sofort den Pelz hierher.
„Herr im Himmel!“ - stöhnte mein Saveljič auf. – „Der Hasenpelz ist fast noch nagelneu! wenns wenigstens für jemand andern wäre, als für einen Säufer in Lumpen!“
Aber der Hasenpelz erschien. Der Bauer probierte ihn sofort an. Tatsächlich war ihm der Pelz, dem schon ich entwachsen war, ein wenig zu eng. Doch irgendwie schaffte er es, ihn überzuziehen, wobei er die Nähte sprengte. Saveljič hätte beinahe aufgeheult, als er die Fäden platzen hörte. Der Landstreicher war überaus zufrieden mit meinem Geschenk. Er begleitete mich zur Kibitka und sagte mit tiefer Verbeugung: „Danke, Euer Wohlgeboren! Belohne Euch der Herrgott für Eure Tugend. Mein Lebtag werd ich Eure Gnaden nicht vergessen.“ - Er ging seiner Wege, und ich fuhr weiter, ohne Saveljičs Ärger weiter zu beachten, und hatte den gestrigen Sturm, meinen Führer und den Hasenpelz bald vergessen.“

A. Puschkin, Die Hauptmannstochter, in: Die Romane, Berlin 1999, S. 29-33

Sergej Jessenin (1895-1925) verfaßte 1920/21 das lyrische Drama Pugatschow, das von einer Bauernrevolte des 18. Jahrhunderts handelt.

Vgl. a. Mierau, Fritz, Russische Stücke: 1913 – 1933, hrsg. u. mit e. Nachw. vers. von Fritz Mierau, Berlin 1988 (Reihe Internationale Dramatik)

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