Donnerstag, 27. April 2006
Film. Majakowski über das Kino
Die Kinematographie zerstört „das Theater“: dies ist ein Vorzeichen der Wiedergeburt der Schauspielkunst

Nachdem ich im vorangegangenen Artikel die Ansicht geäußert habe, daß der Triumph der Kinematographie absolut gesichert ist (denn dies ist die logische Folge aus der ganzen Entwicklung der modernen Kunst, die den szenischen Realismus der echten Dramatiker bis zum Äußersten getrieben hat), sehe ich mich heute vor der Notwendigkeit, eine neue mir gestellte Frage zu beantworten: Kann ich als Künstler das Erscheinen der unbeseelten Maschine dort begrüßen, wo sich noch gestern die „zitternde“ Hand des Malers regte ? – Meine Widersacher behaupten, die Kinematographie führe dort stereotype geschmacklose Wirkungen ein, wo wir heute in Verruf geratene Künstler allein dem Schönen dienen. Was herrscht in diesem Wirbel vor? Die Angst um das Fortleben der Kunst oder im Persönlichen begründeter Kleinmut?
Erscheinungen wie der Kinematograph, das Grammophon und die Photographie müssen als eine Anwendung der Maschine im Bereich der Kunst aufgefaßt werden, als Ersatz der nicht sehr ausgiebigen Handarbeit. Auch in jenen Zweigen der Industrie, in denen die Maschine zu technischen Zwecken verwendet wird, und wesentlich zur Vereinfachung der Arbeitsteilung beigetragen hat, hat sie den Menschen nicht vernichtet, sondern nur die Grenzlinie gezogen zwischen dem Anreger und Organisator der Arbeit und seinem einfachen, unbeseelten Werkzeug. Betrachten wir als Beispiel nur die Malerei! Sie entsprach nicht immer einem wirklichen Bedürfnis. – Ehe ein solches gegeben war, arbeitete der Maler für einen engen Kreis von Königen, Päpsten und Mäzenen, die sich ihr Verlangen, ein der Wirklichkeit ähnliches „Familienbild“ oder ein glattes „anmutiges“ Landschaftsbild zu besitzen, etwas kosten ließen. Auf diesen Gebieten ist die Malerei zu größter Schlichtheit und Vollkommenheit gelangt.
Aber als die Malerei demokratisiert und der Wunsch, solche Kunstwerke zu besitzen, allgemein wurde, entstand (zwecks Verbilligung der Kosten und Vereinfachung des Verfahrens) das Bedürfnis, die Abbildung eines wirklichen Gesichtes oder einer wirklichen Landschaft mittels einer Maschine herzustellen: dies führte zur Erfindung der Photographie. – Hat dieser Umsturz den „Untergang der Maler“ herbeigeführt? – Gewiß nicht!
Die Werke eines Raffael und Velasquez sind selbst Modelle der Photographen geworden: höchste Ideale, denen man nahekommen wollte. – Hat dies den Untergang der Kunst bedeutet? – Nein!
Einige Beispiele für die Beziehungen zwischen der früheren Malerei und der Photographie: stellt man vor das Objektiv eine weite Blende, so ergibt sich große Ähnlichkeit mit Porträts von Carrière; als man zwei Porträts von David Burljuk auf die Leinwand projizierte, konnte das Publikum nicht unterscheiden, welches vom Maler Somoff herrührte und welches das Werk der „Hand“ des Photographen war. Die Leichtigkeit, mit der es gelang, die Natur nachzubilden, hat keineswegs den Wunsch nach Erschaffung des Schönen erstickt, sondern nur die Maler zur Einsicht gebracht, daß die Kunst nicht eine Kopie der Natur ist, und sie veranlaßt, die Natur je nach der Art zu „entstellen“, in der sie sich in den verschiedenen Menschenhirnen spiegelt.
Praktisches Ergebnis: Eine Unzahl bloßer „Kopisten der Natur“ hat sich fruchtbareren Tätigkeiten zugewandt. Aber die wirklichen Maler sind immer führend geblieben.
Alle diese Erkenntnisse gelten auch in bezug auf die Funktionen der Kinematographie. – Dazu erhebt sich aber noch die besondere Frage: Wenn der Maler darauf ausging, die Natur zu kopieren, hat er damit auch das Theater geschändet? – Ganz gewiß!
Betrachten wir die Theaterkunst! – Wenn Werke gegeben werden, die im Alltag spielen, so bemüht man sich, auf der Bühne Ausschnitte aus dem wirklichen, in keiner Weise verschönten Leben zu bringen. Man ahmt in allem sklavisch die Natur nach: vom leisesten Zirpen der Grille bis zu den vom Wind bewegten Vorhängen. Aber es ergeben sich sogleich tödliche Widersprüche, wenn man ein zartes Wolkengebilde durch Musselinvorhänge oder das Meer durch zerknüllte Tücher darstellt. So etwas geht noch in alten Opern, bei denen auf ein Pferd zwanzig Statisten kommen, aber wer kann (um den Schein von Wirklichkeit zu erwecken) Reihen von Wolkenkratzern oder das jähe Aufblitzen der Lichter der Automobile auf die Bühne bringen?
Zum vollständigen Scheitern verurteilt sind auch alle Versuche, das Theater dadurch zu retten, daß man Tournéen, in ferne, von der Volkszählung noch nicht erreichte Provinzen unternimmt, wie es zum Beispiel Mardjanoff mit seinem „Freien Theater“ getan hat.
Hier schleicht sich ganz leise die Kinematographie ein und sagt: „Wenn eure Mission darin besteht, die Natur zu kopieren, warum setzt ihr dann den komplizierten Mechanismus des Theaters in Bewegung, wenn eine zehn Meter lange Leinwand euch den Ozean in „natürlicher“ Größe und den intensiven Verkehr einer Großstadt liefern kann?“
„Aber der Mensch?“, sagt ihr empört. „Was wird aus dem Menschen und seiner Rede?“
Aber ist es das Kino gewesen, das den Menschen umgebracht hat, und nicht vielmehr das Theater, das jede Geste des Schauspielers dem Willen des Regisseurs unterordnete?
Wenn die Schauspieler hunderte Male ihre Rollen proben, nur um auf der Bühne als Menschen aus Fleisch und Blut erscheinen zu können, warum nimmt man denn nie diesen elementaren Vorgang gleich auf der Straße auf? – Und wenn man andererseits immer wieder die Schwierigkeit der Arbeit des Schauspielers betont, warum schickt man dann anstatt der wirklich begabten Künstler die minderwertigen in die Provinz, während ein paar Filmstreifen jeden Zug der hervorragenden Darstellung eines großen Schauspielers wiedergeben können? – Der wirkliche Künstler bleibt immer führend, und der Kinematograph begnügt sich damit, die minderwertigen zu verdrängen und eine ausgezeichnete Kopie des bedeutenden Künstlers zu geben. Indem er das gegenwärtige Theater zu einer einfachen, wenig kostspieligen mechanischen Darstellung umgestaltet, regt er dazu an, über die Form des Theaters der Zukunft und über eine neue Art der Schauspielkunst nachzusinnen.
Dies ist die kulturelle Funktion des Kinematographen in der allgemeinen Geschichte der Kunst.

In der Zeitschrift „Kinegiurnal“ 1913, Nr. 14 und 16

Kino und Kino

Für euch ist das Kino eine bloße Lustbarkeit.
Für mich ist es der Inbegriff der Welt.
Das Kino ist Träger der Bewegung.
Das Kino verjüngt die Literatur.
Das Kino vernichtet das Ästhetisieren.
Das Kino ist Wagemut.
Das Kino ist Kraftentfaltung.
Das Kino dient der Verbreitung von Ideen.
Aber das Kino ist krank. Der Kapitalismus hat ihm eine Handvoll Gold in die Augen gestreut. Gerissene Unternehmer bahnen seine Wege und führen es dabei an der Hand. Sie schaufeln Geld, indem sie die Menschen mit minderwertigen, rührseligen Geschichten zum Weinen bringen.
Das muß ein Ende haben.
Der Kommunismus muß das Kino den Händen der Spekulanten entreißen. Der Futurismus muß die stillen Gewässer austrocknen: die Sümpfe und das Moralisieren. Wenn das nicht kommt, dann bleiben uns nur die mistigen amerikanischen Importe oder die „tränenumglänzten Augen“ der einheimischen Stars.
Die eine dieser Möglichkeiten verursacht uns Übelkeiten. Die andere noch mehr.

1922 in der Zeitschrift „Kinofot“.

Beide Texte aus: Wladimir Majakowski, Vers und Hammer. Schriften, Gedichte, Frankfurt a.M. 1989, S. 158-163

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Mittwoch, 26. April 2006
Sergei M. Eisenstein (1898-1948)
23.1. Sergei M. Eisenstein (Sergei Eizenshtein) in Riga geboren (gest. 11.2.1948 in Moskau)



1918: Eintritt in die Rote Armee (Techniker für militärische Bauten).
1919: Regisseur, Schauspieler, Ausstatter in Armeeklubs. Beschäftigung mit dem Theater, Erarbeitung von Skizzen und Bühnenbildern.
1920: In Polozk, Mogiljow, Smolensk. Beschäftigung mit der japanischen Sprache und dem Kabuki-Theater.
1921: Mitglied des Theaterkollegiums beim Proletkult.
1924: Moskauer Abteilung des Produktions- und Vertriebsstudios SEVSAPKINO.
1925: Premiere von „Streik“ in Moskau. Arbeit am Film „Das Jahr 1905“. Projekt „Panzerkreuzer Potjomkin“; Premiere im Bolschoi-Theater anläßlich des 20. Jahrestages der Revolution von 1905.
1926: Premiere von „Oktober“.
1928: Lehrtätigkeit am Staatlichen Filmtechnikum; Tonfilm-Manifest.
1930: Hollywood, Begegnung mit Chaplin, Sinclair, Dreiser und Disney.
1932: Rückkehr über die USA und Westeuropa nach Moskau.
1933: Regievertrag im Moskauer Filmstudio SOJUZKINO.
1937: Ernennung zum Professor am GIK.
Arbeit mit P. Pawlenko am Szenarium „Alexander Newski“. Arbeit am Buch „Montage“.
1939: Leninorden. Titel „Doktor der Kunstwissenschaften“.
1940: Arbeit an „Iwan der Schreckliche“. Künstlerischer Leiter des Mosfilmstudios.
1945: Premiere 1. Teil von „Iwan der Schreckliche“ in Moskau. Arbeit am zweiten Teil.
1946: Stalinpreis für den 1. Teil von „Iwan der Schreckliche“. Das ZK der KPdSU verbietet allerdings die Aufführung des 2. Teils.
1947: Leiter des Sektors Film im Institut für Kunstgeschichte bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR.



Quelle:
Sergej Eisentein, Das dynamische Quadrat: Schriften zum Film, hg. u. üs. v. O. Bulgakowa u. D. Hochmuth, Leipzig 1988.

Lion Feuchtwanger (1884-1958) berichtete über den Film, der am 26. April 1926 im Apollo-Theater in Berlin-Kreuzberg vorgeführt wurde, in seinem 1930 publizierten Roman „Erfolg“ (Buch 4, 2. Kap.):

„... Auch auf dem Meer ist man derweilen nicht faul ... Man hat andere Schiffe herangezogen, große, mächtige. Sie umzingeln die POTEMKIN. Auf dem Schiff mit der roten Fahne ist alles klar zum Gefecht. Seine Rohre, spiegelglatt, gigantisch, werden gerichtet, gehen auf und nieder, bedrohliche Fabeltiere ... Ringsum schwimmt es heran, eiserne Wesen der Vernichtung ... Die POTEMKIN steuert auf sie zu. Es sind Schiffe ihrer Klasse, die sie jagen... Es ist keine Aussicht durchzubrechen... Sie kann nicht siegen, sie kann nur, sterbend, die andern mit in ihren Tod reißen. Es ist eine wilde, dumpfe Spannung auf der Leinwand und vor ihr, wie langsam die riesigen Schiffe den Kreis schließen... Da beginnt das verurteilte Schiff, Zeichen zu geben... bunte Flaggen steigen auf, nieder. Winken. Die POTEMKIN signalisiert: „Schießt nicht, Brüder“ . . . Eine ungeheure Freude hebt die Herzen, als der Kreis der Verfolger die POTEMKIN passieren läßt, als sie ungefährdet einläuft in den neutralen Hafen ...“ [Konstanza, 1905].

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