Donnerstag, 27. April 2006
Literatur. Tauwetter unter Chruschtschow
Nach 1953 begann die so genannte „Tauwetterperiode“ unter Nikita Chruschtschow. Die Bezeichnung geht auf den Roman "Tauwetter" von Ilja G. Ehrenburg, 1954, zurück. Es kam zur Lockerung der Doktrin des sozialistischen Realismus. Das Themenspektrum erweiterte sich etwa durch die Einbeziehung der Psychologie des Erlebens.

Ein bedeutender Roman ist W.D. Dudinzews "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" (1956). Er setzt sich kritisch mit der Periode des Stalinismus auseinander.

Weitere wichtige Autoren der Epoche waren:
D. A. Granin, J. M. Nagibin, Wera Panowa.

In der Lyrik setzte sich vor allem J.A. Jewtuschenko mit der jüngsten russischen Vergangenheit auseinander.
Besonders A.A. Wosnessenski, B. Achmadulina und R.I. Roschdestwenski bemühten sich um neue Formen lyrischen Ausdrucks.
Die Jeansprosa (oder Junge Prosa) wandte sich den Problemen Heranwachsender in der sowjetischen Gesellschaft zu.
Allerdings wurden die neu gewonnenen Freiheiten in der Folgezeit wieder eingeschränkt (B. L. Pasternak, A. I. Solschenizyn).
1985: Mit der Wahl Michail Gorbatschews zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei begann eine neue Ära in der Geschichte der Sowjetunion. In der Perestrojka-Literatur spielte die Publizistik eine große Rolle. Der große Diskurs um Enttabuisierung, d.h. Aufdeckung und Darstellung bisher streng geheim gehaltener Tatsachen, und deren Bewältigung vollzog sich in Form von Reportagen, Dokumentationen, Tatsachenberichten, Erinnerungen, Leserbriefen, Diskussionen, Disputen und Polemiken. Besonders populär war in den 1980er Jahren die Zeitschrift Ogonjök (Das kleine Feuer) mit ihrem literarischen Material aus den Archiven der Geheimnispolizei. Die Nachfrage nach der Zeitschrift Ogonjök war außerordentlich groß.
In den Abschlußklassen der russischen Schulen wurden in den Geschichts- und Literaturstunden die Veröffentlichungen der Zeitungen und Zeitschriften benutzt. Die meisten Werke der zeitgenössischen Literatur hat man nicht in bereits vorhandenen Büchern gelesen, sondern in Heften der "Roman-Gazeta" (Roman-Zeitung). Das war eine literarische Sonderzeitschrift. So haben die Schüler der Perestrojka-Zeit z.B. den Roman von Wladimir Dudincev „Weiße Gewänder” und den von Anatolij Rybakov „Die Kinder vom Arbat” kennen gelernt. Der Roman „Weiße Gewänder” erzählt von der Zerschlagung der biogenetischen Forschung in der Stalin-Zeit. Er wurde 1967 verfaßt. Der Roman von Rybakov ist im Jahre 1987 erschienen und wurde das erfolgreichste Buch der Perestrojka-Literatur. Er zeigt die private Sphäre junger Leute in Moskau in den 1930er Jahren. Rybakov erweiterte seinen Erfolgsroman mit „Das Jahr 1935 und andere Jahre” (1989) und „Angst” (1990) zur Trilogie, in der die Stalin-Handlung mehr und mehr Gewicht erhielt.
Zum eigentlichen Erfolgsautor der neuen Literatur wurde Viktor Pelevin. Er hatte am Moskauer Energetik-Institut studiert und zunächst kurze Erzählungen geschrieben. Zwischen 1992 und 1999 erschienen acht Bücher von ihm. Das letzte Buch vom Jahre 1999 heißt „Generation '"P'” und zeigt ein Generationenporträt der so genannten „Pepsi-Generation”.
Derzeitig ist der Name der Schriftstellerin Tatjana Tolstaja in aller Munde. Die Enkelin Tolstojs schrieb ihre erste Erzählung 1983. Sie lehrte sechs Jahre in den USA russische Literatur und kehrte 2000 nach Russland zurück. Eine Überraschung bot ihr Roman mit dem unübersetzbaren Titel „Kys’” im Jahre 2003.

„Man braucht sich um die russische Literatur nicht zu sorgen. Sie gewinnt ihre Perspektiven aus der Gewissheit großer Traditionen und schöpft aus einer uneingeschränkt fortwirkenden künstlerischen Kraft” (Lauer, Rheinhard: Kleine Geschichte der russischen Literatur. München 2005. S. 259).

Dr. Darja Ozerova

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