Donnerstag, 27. April 2006
Literatur. Nikolaj Karamsin
Karamsin ist Hauptvertreter des russischen Sentimentalismus; Verfasser der Geschichte des russischen Staates (1818-1826).

N. Karamsin

Karamsin schrieb v.a. Erzählungen ("Bednaja Liza", 1792). Bekannt ist auch seine Reisebeschreibung "Pis’ma russkogo putešestvennika" (1799-1801), in der er Rußland mit europäischem Gedankengut bekannt machte. Er wollte die russische Literatursprache endgültig von kirchenslawischen Elementen befreien und wurde zum Wortführer der so genannten Neuerer.
1789: Reise nach Deutschland, Schweiz, Frankreich und England bis 1790.

"Karamsins Pis’ma russkogo putešestvennika" (1799-1801, "Briefe eines russischen Reisenden") geben seine Eindrücke von einer Reise durch Westeuropa wieder.

1791: Karamsin gibt die Literaturzeitschrift Moskowski shurnal heraus.
1802-1803: Redakteur der Zeitschrift Westnik Jewropy.
1803: Ernennung zum Reichshistoriographen. Beginn der Arbeit an der "Istorija gosudarstva Rossijskogo" = "Geschichte des russischen Staates".
1818: Die ersten acht Bände der Geschichte erscheinen.

Karamsins Besuch bei Immanuel Kant:

„Gestern nachmittag war ich bei dem berühmten Kant, einem scharfsinnigen und feinen Metaphysiker, der Malebranche und Hume, Leibniz und Bonnet stürzte, Kant, den einst der jüdische Sokrates, der verstorbene Mendelssohn, den alles zermalmenden Kant nannte. Ich hatte keinen Brief an ihn; aber Kühnheit gewinnt Städte, und mir öffnete sie die Türe des Philosophen. Ein kleiner hagerer Greis, von einer außerordentlichen Zartheit und Blässe, empfing mich. Ich sagte zu ihm: „Ich bin ein russischer Edelmann, der deswegen reiset, um mit einigen berühmten Gelehrten bekannt zu werden – und darum komm ich zu Kant.“ Er nötigte mich sogleich zum Sitzen und sagte: „Meine Schriften können nicht jedermann gefallen. Nur wenige lieben die tiefen metaphysischen Untersuchungen, mit welchen ich mich beschäftigt habe.“ Wir sprachen erst eine halbe Stunde über verschiedene Gegenstände: von Reisen, von China, von Entdeckungen neuer Länder etc. Ich mußte dabei über seine geographischen und historischen Kenntnisse staunen, die allein hinreichend schienen, das ganze Magazin eines menschlichen Gedächtnisses zu füllen, und doch ist dies bei ihm nur Nebensache. Danach brachte ich das Gespräch, nicht ohne Sprung, auf die moralische Natur des Menschen, und folgendes hab ich von seinem Urteile darüber gemerkt:
„Unsere Bestimmung ist Tätigkeit. Der Mensch ist niemals ganz mit dem zufrieden, was er besitzt, und strebt immer nach etwas anderm. Der Tod trifft uns noch auf dem Wege nach dem Ziele unserer Wünsche. Man gebe dem Menschen alles, wonach er sich sehnt, und in demselben Augenblicke, da er es erlangt, wird er empfinden, daß dieses Alles nicht alles sei. Da wir nun hier kein Ziel und Ende unseres Strebens sehen, so nehmen wir eine Zukunft an, wo sich der Knoten lösen muß; und dieser Gedanke ist dem Menschen um so angenehmer, je weniger Verhältnis hienieden zwischen Freude und Schmerz, zwischen Genüssen und Entbehrungen stattfindet. Ich für meine Person erheitere mich damit, daß ich schon über sechzig Jahre alt bin und daß das Ende meines Lebens nicht mehr fern ist, wo ich in ein besseres zu kommen hoffe. Wenn ich mich jetzt an die Freuden erinnere, die ich während meines Lebens genossen habe, so empfinde ich kein Vergnügen; denk ich aber an die Gelegenheiten, wo ich nach dem Moralgesetz handelte, das in mein Herz geschrieben ist, so fühl ich die reinste Freude. Ich nenne es das Moralgesetz, andere das Gewissen, die Empfindung von Recht und Unrecht – man nenne es, wie man will; aber es ist. Ich habe gelogen; kein Mensch weiß es; und ich schäme mich doch. – Freilich ist die Wahrscheinlichkeit des künftigen Lebens noch immer keine Gewißheit; aber wenn man alles zusammennimmt, so gebietet die Vernunft, daran zu glauben. Was würde auch aus uns werden, wenn wir es sozusagen mit den Augen sähen? Würden wir dann nicht vielleicht durch den Reiz desselben von dem rechten Gebrauche des Gegenwärtigen abgezogen werden? Reden wir aber von Bestimmung, von einem zukünftigen Leben, so setzen wir dadurch schon das Dasein eines ewigen und schöpferischen Verstandes voraus, der alles zu irgend etwas, und zwar zu etwas Gutem schuf. Was? Wie? – Hier muß auch der erste Weise seine Unwissenheit bekennen. Die Vernunft löscht hier ihre Fackel aus, und wir bleiben im Dunkeln. Nur die Einbildungskraft kann in diesem Dunkel herumirren und Phantome schaffen.“ Ehrwürdiger Mann! Verzeihe, wenn ich deine Gedanken in diesen Zeilen entstellt habe.
Er kennt Lavater und hat mit ihm korrespondiert. „Lavater“, sagte er, „ist sehr liebenswürdig, in Rücksicht seines guten Herzens; aber seine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft macht, daß er sich durch Phantome blenden läßt, an Magnetismus und dergleichen glaubt.“ Ich erwähnte seine Feinde. „Sie werden sie kennenlernen“, sagte Kant, „und Sie werden finden, daß sie allzumal gute Menschen sind.“
Er schrieb mir die Titel von zweien seiner Schriften auf, die ich noch nicht gelesen habe: „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Metaphysik der Sitten“ – und dieses Zettelchen werd ich verwahren wie ein heiliges Andenken.
Indem er meinen Namen in sein Taschenbuch schrieb, wünschte er, daß sich endlich einmal alle meine Zweifel lösen möchten. Darauf schieden wir.
Das, meine Freunde, ist eine kurze Beschreibung einer für mich äußerst interessanten Unterredung, die über drei Stunden dauerte. – Kant spricht geschwind, sehr leise und unverständlich; ich mußte alle meine Gehörnerven anstrengen, um zu verstehen, was er sagte. Er bewohnt ein kleines unansehnliches Haus. Überhaupt ist alles bei ihm einfach, ausgenommen seine Metaphysik.“

Lit.:
N.M. Karamsin, Briefe eines russischen Reisenden, 2. Aufl. Berlin 1981, S. 44-47.

... comment