Mittwoch, 26. April 2006
Literatur. Maxim Gorkij: Rede vor der öffentlichen Versammlung der Gesellschaft ‚Kultur und Freiheit’ in Moskau
burkhardt krause, 22:13h
Maxim Gorkij: Rede vor der öffentlichen Versammlung der Gesellschaft ‚Kultur und Freiheit’ in Moskau
In: Novaja Žizn, Nr. 126 (341) 30. (17.) Juni 1918

Stalin und Gorki
Es ist überflüssig, die Notwendigkeit kultureller und erzieherischer Arbeit zu beweisen, diese Notwendigkeit ist offensichtlich; die schmutzigen Steine unserer Pflaster, der jahrhundertealte Schmutz in Herz und Hirn der Menschen flehen beredt darum. Heute sehen wir klarer als je zuvor, wie tief das russische Volk von Unwissenheit infiziert ist, in welch erschreckendem Maße ihm die Interessen des eigenen Landes fremd sind, wie primitives sich auf zivilisatorischem Gebiet verhält und wie kindlich unentwickelt sein Sinn für Geschichte und das Verständnis seines Platzes im historischen Prozeß sind.
Wenn ich ‚russisches Volk’ sage, verstehe ich darunter keineswegs nur die werktätigen Massen der Arbeiter und Bauern; nein, im spreche ganz allgemein vom Volk, von allen seinen Klassen, denn Unwissenheit und Unkultiviertheit sind der ganzen russischen Nation eigen. Aus dieser viele Millionen zählenden Masse ungebildeter Menschen, die vom Wert des Lebens keine Vorstellung haben, kann man nur die unbedeutenden paar tausend der sogenannten Intelligenz aussondern, d.h. Menschen, die sich der Bedeutung des intellektuellen Elements im historischen Prozeß bewußt sind. Diese Menschen sind, ungeachtet ihrer Fehler, das Bedeutendste, was Rußland im Laufe seiner ganzen schwierigen und widerwärtigen Geschichte hervorgebracht hat; diese Menschen waren und bleiben wirklich das Hirn und Herz unseres Landes. Ihre Fehler erklären sich durch den Boden Rußlands, der für intellektuelle Begabungen unfruchtbar ist. Wir alle sind gefühlsbegabt, sind begabt in Güte, Grausamkeit und im Unglück; unter uns gibt es viele Helden, aber nur wenige kluge und starke Menschen, die ihre Bürgerpflichten tapfer erfüllen können – unter russischen Bedingungen eine schwere Pflicht. Wir lieben Helden, wenn sie nicht gegen uns sind, aber es ist uns nicht klar, daß Heldentum nur eine Stunde oder einen Tag lang emotionale Anstrengung verlangt, Mut dagegen ein ganzes Leben lang. Unter russischen Lebensbedingungen verlangt Kulturarbeit kein Heldentum, sondern Mut, dauernde, hartnäckige Anspannung aller Kräfte der Seele. Es ist eine äußerst schwierige Angelegenheit, „Vernünftiges, Gutes und Ewiges“ auf die trügerischen russischen Sümpfe zu säen, und wir wissen schon, daß die Saaten unseres besten Blutes, des besten Saftes unserer Nerven auf den russischen Ebenen nur spärlich und kümmerlich aufgehen. Trotzdem müssen wir säen, und das ist die Aufgabe der Intellektuellen, jener Intellektuellen, die heute gewaltsam vom Leben ausgeschlossen und sogar zu Volksfeinden erklärt werden. Aber gerade sie müssen ihre schon längst begonnene Arbeit fortsetzen, die Arbeit, das Land geistig zu reinigen und zu erneuern, denn wir haben keine andere intellektuelle Kraft außer ihnen.
Man kann nun fragen: Und das Proletariat, die führende revolutionäre Klasse? Und die Bauern?
Ich glaube nicht, daß man die Masse des Proletariats eine kultivierte, intellektuelle Kraft nennen kann. Aber vielleicht ist das bequem für die Polemik mit der Bourgeoisie, um sie einzuschüchtern und sich selbst Mut zu machen; aber hier, wo sich, wie ich glaube, Menschen versammelt haben, die aufrichtig und tief um die Zukunft des Landes besorgt sind, ist das überflüssig. Das Proletariat als Masse ist nur eine physische Kraft, nicht mehr; ebenso auch die Bauernschaft. Mit der historisch jungen Arbeiter- und Bauernintelligenz ist es anders; sie ist natürlich eine geistig schöpferische Kraft, und als solche ist sie nun von ihrer eigenen Masse abgeschnitten und ebenso einsam, wie unsere alte unterdrückte Intelligenz einsam und von der Masse der Werktätigen abgeschnitten ist – unterdrückt nicht nur deshalb, weil ein Teil von ihr in Arbeitslagern war, sondern aufgrund ihrer Existenzbedingungen in Rußland, aufgrund ihres ganzen Lebens und ihrer Arbeit.
Mir scheint, daß wir zuallererst die Notwendigkeit erkennen müssen, die intellektuellen Kräfte der alten erfahrenen Intelligenz mit den Kräften der jungen Arbeiter- und Bauernintelligenz zu vereinigen. Das Schema der allrussischen, kulturellen und erzieherischen Arbeit stelle ich mir folgendermaßen vor:
Am Anfang muß die Selbstorganisierung der gesamten Intelligenz stehen, die jetzt fühlt und begreift, daß es unmöglich ist, den neuen Menschen allein durch politische Programme und politische Propaganda zu erziehen; daß die Vertiefung von Feindschaft und Haß die Menschen zur völligen Verrohung und Verwilderung führt; daß unverzügliche intensive Kulturarbeit für die Erneuerung des Landes unerläßlich ist und daß wir nur dadurch von den inneren und äußeren Feinden befreit werden.
Die Konzentration unserer Kräfte ist die wichtigste Aufgabe des Tages, und wenn wir die intellektuellen Kräfte unseres Landes konzentrieren, müssen wir die ganze Reserve der Arbeiter- und Bauernintelligenz zu der Masse der Geistesarbeiter hinzuziehen, alle jene Arbeiter und Bauern, die jetzt ohnmächtig und einsam kämpfen – in einer Umgebung, die ihnen physisch verwandt, aber geistig schon fremd ist; die verdorben ist von der zynischen Demagogie echter Fanatiker oder maskierter Abenteurer. Diese Kräfte haben eine gewaltige Bedeutung als ein eisernes Kettenglied, das die alte Intelligenz fest mit der Masse verbinden kann und ihr eine Möglichkeit gibt, die Massen unmittelbar zu beeinflussen.
Wenn die Kulturschaffenden ihre Kräfte konzentrieren und sie mit den frischen Kräften der Arbeiter- und Bauernintelligenz vereinigen, müssen sie sich bemühen, ihre eigene Arbeit zu koordinieren – das ist notwendig, um mit der Energie hauszuhalten, von der wir nicht allzuviel haben und das ist auch nötig, um doppelte Arbeit zu vermeiden.
Wenn wir das ganze Land mit einem Netz von Gesellschaften für kulturelle und erzieherische Arbeit überziehen und somit alle geistigen Kräfte des Landes sammeln, können wir überall Feuer entzünden, die unserem Land Licht und Wärme geben, die ihm helfen, gesund zu werden und auf eigenen Füßen zu stehen – rüstig, kräftig und fähig zum Aufbau und zum Schaffen. Im meine nicht eine äußerliche und mechanische Vereinigung von Menschen, die verschieden denken, sondern eine innerliche und lebendige Vereinigung all jener, die das gleiche fühlen. Nur so und nur auf diese Weise können wir zu wirklicher Kultur und Freiheit finden. (...)
Zit.n.
Maxim Gorkij, Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, hg., komm. u. mit e. Nachwort v. B. Scholz, Frankfurt a.M. 1974, S. 248-251
In: Novaja Žizn, Nr. 126 (341) 30. (17.) Juni 1918

Stalin und Gorki
Es ist überflüssig, die Notwendigkeit kultureller und erzieherischer Arbeit zu beweisen, diese Notwendigkeit ist offensichtlich; die schmutzigen Steine unserer Pflaster, der jahrhundertealte Schmutz in Herz und Hirn der Menschen flehen beredt darum. Heute sehen wir klarer als je zuvor, wie tief das russische Volk von Unwissenheit infiziert ist, in welch erschreckendem Maße ihm die Interessen des eigenen Landes fremd sind, wie primitives sich auf zivilisatorischem Gebiet verhält und wie kindlich unentwickelt sein Sinn für Geschichte und das Verständnis seines Platzes im historischen Prozeß sind.
Wenn ich ‚russisches Volk’ sage, verstehe ich darunter keineswegs nur die werktätigen Massen der Arbeiter und Bauern; nein, im spreche ganz allgemein vom Volk, von allen seinen Klassen, denn Unwissenheit und Unkultiviertheit sind der ganzen russischen Nation eigen. Aus dieser viele Millionen zählenden Masse ungebildeter Menschen, die vom Wert des Lebens keine Vorstellung haben, kann man nur die unbedeutenden paar tausend der sogenannten Intelligenz aussondern, d.h. Menschen, die sich der Bedeutung des intellektuellen Elements im historischen Prozeß bewußt sind. Diese Menschen sind, ungeachtet ihrer Fehler, das Bedeutendste, was Rußland im Laufe seiner ganzen schwierigen und widerwärtigen Geschichte hervorgebracht hat; diese Menschen waren und bleiben wirklich das Hirn und Herz unseres Landes. Ihre Fehler erklären sich durch den Boden Rußlands, der für intellektuelle Begabungen unfruchtbar ist. Wir alle sind gefühlsbegabt, sind begabt in Güte, Grausamkeit und im Unglück; unter uns gibt es viele Helden, aber nur wenige kluge und starke Menschen, die ihre Bürgerpflichten tapfer erfüllen können – unter russischen Bedingungen eine schwere Pflicht. Wir lieben Helden, wenn sie nicht gegen uns sind, aber es ist uns nicht klar, daß Heldentum nur eine Stunde oder einen Tag lang emotionale Anstrengung verlangt, Mut dagegen ein ganzes Leben lang. Unter russischen Lebensbedingungen verlangt Kulturarbeit kein Heldentum, sondern Mut, dauernde, hartnäckige Anspannung aller Kräfte der Seele. Es ist eine äußerst schwierige Angelegenheit, „Vernünftiges, Gutes und Ewiges“ auf die trügerischen russischen Sümpfe zu säen, und wir wissen schon, daß die Saaten unseres besten Blutes, des besten Saftes unserer Nerven auf den russischen Ebenen nur spärlich und kümmerlich aufgehen. Trotzdem müssen wir säen, und das ist die Aufgabe der Intellektuellen, jener Intellektuellen, die heute gewaltsam vom Leben ausgeschlossen und sogar zu Volksfeinden erklärt werden. Aber gerade sie müssen ihre schon längst begonnene Arbeit fortsetzen, die Arbeit, das Land geistig zu reinigen und zu erneuern, denn wir haben keine andere intellektuelle Kraft außer ihnen.
Man kann nun fragen: Und das Proletariat, die führende revolutionäre Klasse? Und die Bauern?
Ich glaube nicht, daß man die Masse des Proletariats eine kultivierte, intellektuelle Kraft nennen kann. Aber vielleicht ist das bequem für die Polemik mit der Bourgeoisie, um sie einzuschüchtern und sich selbst Mut zu machen; aber hier, wo sich, wie ich glaube, Menschen versammelt haben, die aufrichtig und tief um die Zukunft des Landes besorgt sind, ist das überflüssig. Das Proletariat als Masse ist nur eine physische Kraft, nicht mehr; ebenso auch die Bauernschaft. Mit der historisch jungen Arbeiter- und Bauernintelligenz ist es anders; sie ist natürlich eine geistig schöpferische Kraft, und als solche ist sie nun von ihrer eigenen Masse abgeschnitten und ebenso einsam, wie unsere alte unterdrückte Intelligenz einsam und von der Masse der Werktätigen abgeschnitten ist – unterdrückt nicht nur deshalb, weil ein Teil von ihr in Arbeitslagern war, sondern aufgrund ihrer Existenzbedingungen in Rußland, aufgrund ihres ganzen Lebens und ihrer Arbeit.
Mir scheint, daß wir zuallererst die Notwendigkeit erkennen müssen, die intellektuellen Kräfte der alten erfahrenen Intelligenz mit den Kräften der jungen Arbeiter- und Bauernintelligenz zu vereinigen. Das Schema der allrussischen, kulturellen und erzieherischen Arbeit stelle ich mir folgendermaßen vor:
Am Anfang muß die Selbstorganisierung der gesamten Intelligenz stehen, die jetzt fühlt und begreift, daß es unmöglich ist, den neuen Menschen allein durch politische Programme und politische Propaganda zu erziehen; daß die Vertiefung von Feindschaft und Haß die Menschen zur völligen Verrohung und Verwilderung führt; daß unverzügliche intensive Kulturarbeit für die Erneuerung des Landes unerläßlich ist und daß wir nur dadurch von den inneren und äußeren Feinden befreit werden.
Die Konzentration unserer Kräfte ist die wichtigste Aufgabe des Tages, und wenn wir die intellektuellen Kräfte unseres Landes konzentrieren, müssen wir die ganze Reserve der Arbeiter- und Bauernintelligenz zu der Masse der Geistesarbeiter hinzuziehen, alle jene Arbeiter und Bauern, die jetzt ohnmächtig und einsam kämpfen – in einer Umgebung, die ihnen physisch verwandt, aber geistig schon fremd ist; die verdorben ist von der zynischen Demagogie echter Fanatiker oder maskierter Abenteurer. Diese Kräfte haben eine gewaltige Bedeutung als ein eisernes Kettenglied, das die alte Intelligenz fest mit der Masse verbinden kann und ihr eine Möglichkeit gibt, die Massen unmittelbar zu beeinflussen.
Wenn die Kulturschaffenden ihre Kräfte konzentrieren und sie mit den frischen Kräften der Arbeiter- und Bauernintelligenz vereinigen, müssen sie sich bemühen, ihre eigene Arbeit zu koordinieren – das ist notwendig, um mit der Energie hauszuhalten, von der wir nicht allzuviel haben und das ist auch nötig, um doppelte Arbeit zu vermeiden.
Wenn wir das ganze Land mit einem Netz von Gesellschaften für kulturelle und erzieherische Arbeit überziehen und somit alle geistigen Kräfte des Landes sammeln, können wir überall Feuer entzünden, die unserem Land Licht und Wärme geben, die ihm helfen, gesund zu werden und auf eigenen Füßen zu stehen – rüstig, kräftig und fähig zum Aufbau und zum Schaffen. Im meine nicht eine äußerliche und mechanische Vereinigung von Menschen, die verschieden denken, sondern eine innerliche und lebendige Vereinigung all jener, die das gleiche fühlen. Nur so und nur auf diese Weise können wir zu wirklicher Kultur und Freiheit finden. (...)
Zit.n.
Maxim Gorkij, Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, hg., komm. u. mit e. Nachwort v. B. Scholz, Frankfurt a.M. 1974, S. 248-251
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