Mittwoch, 26. April 2006
Literatur und Kunst. 1924: Gründung des Literarischen Zentrums der Konstruktivisten in Moskau
Das „Literarische Zentrum der Konstruktivisten“ in Moskau gegründet.

Zu ihm gehörten Lyriker wie Il’ja Sel’vinskij, Edvard Bagrickij, Vladimir Lugovskoj, Vera Inber u.a.
Das Zentrum organisierte sich straff wie die Partei, auch stellte es 1925 einen „Staatsplan der Literatur“ auf. Er legte präzise die Aufgaben der Mitglieder für das kommende Jahr fest. Selbst die Poetik hielt sich an solche minutiösen Planungen, indem sie von der Poesie ein Höchstmaß an poetischer Ökonomie forderte.

Nach: Städtke, S. 297

Die Konstruktivisten wollten die mechanischen Vorgänge der Industrie und die jüngsten Entwicklungen der Technik darstellen. Die abstrakte Kunst suchte in Mechanismen und Maschinen nach konkreten Anhaltspunkten. Suprematisten, Projektionisten und Vertreter anderer nichtgegenständlich arbeitender Richtungen verwandelten die Malerei in eine Art algebraischer Rechnung. Sie verwendeten in ihren Aufrufen wie in den Titeln ihrer Bilder einer fast wissenschaftlichen Terminologie. Ihre streng sachlich-zweckmäßig, geometrisch konstruierten Gebilde bekamen das Aussehen statistischer Diagramme, von Skizzen und Plänen der Maschinenbauingenieure. Einige Maler, welche den Industrialisierungsschub der neuen sowjetischen Gesellschaft erkannten, wollten die Kunst in die Produktion einzufügen und dem Nützlichen zuführen. Die im 1920 in Moskau eingerichteten „Institut mudozestvennoj kul’tury“ (Institut für Kunst und Kultur, INCHUK) unternommenen Versuche und die daraus gewonnenen Erfahrungen führten zu einem radikalen Beschluß.
Am 24. Mai 1922 erklärten 25 Mitglieder des INCHUK (Tatlin, Rodtsmenko, Lawinskij, Popowa, Stepanowa u.a.) die herkömmliche Staffeleimalerei für überholt und jede künstlerische Tätigkeit, die kein produktives Ziel verfolgte, für überflüssig. Die Kunst wurde Konstruktion von Gegenständen, die technische Verarbeitung von Materialien. Sie näherte sich dem Handwerk, den Tätigkeiten der Arbeiter. Nach den „absoluten“ Bildern des Suprematismus wollten die Kubofuturisten ein neues Universum der absolut notwendigen und präzisen Einrichtungen und Vorrichtungen gestalten und den Formen des bürgerlichen Zeitalters eine sparsame, strenge Geschlossenheit, einen beinah asketischen „Purismus“ entgegenstellen (Idee der „Industriekunst“ [proiz-vodstvennoe iskusstvo]).
Die „Produktivisten“ (proizvodstvenniki) übertrieben jedoch mit der kategorischen Ablehnung aller Werte der Vergangenheit – bei vielen führte dies zu einer nihilistischen Haltung.
Der von ihnen vertretene Industrialismus brachte keine beachtlichen Ergebnisse hervor. Die proizvodstvenniki wollten einen zu raschen Sprung in ein Rußland der Wolkenkratzer und Großfabriken, in ein russisches Amerika.
Im Oktober 1922 wurden diese Ideen durch die „Erste Russische Kunstausstellung“ (Vystavka izobrazitel'nogo iskusstva RSFSR) in Berlin auch in Westeuropa besser bekannt.
Im Dezember 1922 schrieb Majakowskij aus Paris:

„Zum erstenmal ist die neue Parole der Kunst nicht von Frankreich, sondern von Rußland ausgegangen: der Konstruktivismus. Man wundert sich sogar, daß es dieses Wort auf Französisch überhaupt gibt. Ich denke nicht an den Konstruktivismus jener Künstler, die aus schönen und nützlichen Drähten und Blechfolien unnütze Gebilde formen; sondern an den, der die Arbeit des Künstlers nur als eine Art ‚Bautechnik’ betrachtet, die nötig ist, unser ganzes praktisches Leben zu bilden und zu gestalten. Hier haben die französischen Künstler von uns zu lernen.“

Nach: angelo maria ripellino, majakowskij und das russische theater der avantgarde, Köln und Berlin 1964, S. 134 ff.

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